TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: "Der Unterschätzte", von Floo Weißmann | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Der Unterschätzte“, von Floo Weißmann

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US-Präsident Joe Biden hat bisher besser mehr erreicht, als viele ihm zugetraut hätten. Nun würde er gerne weitermachen, aber das passt selbst seinen Parteifreunden nicht.

  Joe Biden hat Spaß am Regieren. Daran hat der US-Präsident in seiner Rede zur Lage der Nation keinen Zweifel gelassen. Der 80-Jährige verteidigte seine Erfolge, gab sich pragmatisch und volksnah, setzte gezielte Botschaften an verschiedene Wählergruppen ab und parierte Zwischenrufe der Republikaner teils mit Humor und teils mit Streitlust. Der Auftakt für eine Kampagne zur Wiederwahl 2024 wäre gemacht – wenn, ja wenn der Polit-Veteran nur will. Die Personalie beschäftigt das politische Amerika und die Verbündeten der USA seit Monaten. Für Anfang dieses Jahres hat Biden seine Entscheidung angekündigt. Inzwischen ist Februar, und Freund und Feind warten weiter.
  Biden würde wohl gerne weitermachen. Er war nach den turbulenten Trump-Jahren zunächst als Übergangspräsident gehandelt worden, der dank seiner Erfahrung das Land stabilisiert und dann an die nächste Generation übergibt. Aber er selbst sieht sich offenkundig nicht als Auslaufmodell, sondern erstens als erfolgreichen Präsidenten, der eine weitere Amtszeit benötigt, um seine Reformen voranzutreiben. Und zweitens als die beste Waffe der Demokraten im politischen Grabenkampf mit den Republikanern.
   Für beides gibt es durchaus Argumente. Gemessen an dem Blatt, das Biden nach den Trump-Jahren und dem Kapitolsturm in der Hand hielt, hat er innen- und außenpolitisch gut gespielt. Alles in allem zumindest. Und mit der unerwartet günstig verlaufenen Kongresswahl 2022 hat er auch in politischer Hartwährung geliefert. Es gibt aber einen Haken: Die allermeisten Amerikaner halten Biden nicht für erfolgreich und wünschen sich ein neues Gesicht im Weißen Haus.
   Selbst vielen Demokraten graut vor der Aussicht, mit dem ältesten Präsidentschaftskandidaten der US-Geschichte ins Rennen zu gehen. Zudem war Biden noch nie dafür bekannt, Massen zu begeistern. Aber die Demokraten sind ihrem aktuellen Bannerträger ausgeliefert. Tritt er wieder an, muss die Partei sich wohl oder übel hinter ihm scharen; alles andere wäre ein Rezept für eine Niederlage. Abgesehen davon fehlt der Partei derzeit eine offensichtliche Alternative.
   Biden kann immerhin für sich verbuchen, dass er schon oft unterschätzt, gar belächelt wurde. In seiner Rede zur Lage der Nation hat er nun ausgebreitet, was es seiner Ansicht nach braucht, um die nächste Wahl zu gewinnen. Es sind weniger die großen Visionen als vielmehr konkrete Erleichterungen für den Alltag der Menschen. Im Maschinenraum der Politik war Biden schon immer zuhause. Sollte er 2024 doch nicht mehr antreten, müssen die Demokraten erst jemanden finden, der oder die dort so genussvoll und so beharrlich werkt.

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