Details über sexuellen Missbrauch verletzen Opferschutz
Wien (OTS) – Nach Meinung des Senats 1 verstößt der Artikel „Prozess gegen Stiefvater um nicht geglaubte Vergewaltigungen“, erschienen am 15.04.2021 auf „derstandard.at“, gegen die Punkte 5 (Persönlichkeitsschutz) und 6 (Intimsphäre) des Ehrenkodex für die österreichische Presse.
Im Artikel wird ausführlich über eine Gerichtsverhandlung am Straflandesgericht Wien berichtet. Ein 56-Jähriger soll sich jahrelang an seinen Stieftöchtern vergangen haben. Er hätte schon 2014 gestoppt werden können – eine Gutachterin habe dem damals 13-Jährigen Opfer und ihrer fünf Jahre älteren Schwester aber nicht geglaubt. Im Artikel wird die Vernehmung des Angeklagten durch den Vorsitzenden teilweise wörtlich wiedergegeben; es werden mehrere Zitate aus der Verhandlung veröffentlicht, in denen die Missbrauchsfälle detailreich geschildert werden. Aus diesen Zitaten geht genau hervor, auf welche Art und Weise der Tatverdächtige seine beiden Stieftöchter sexuell missbraucht hat. Zudem schildert ein Zeuge, dass er den Angeklagten u.a. dabei beobachtet habe, wie er ein Mädchen in einem Schwimmbad sexuell belästigte. Am Ende des Artikels wird die Aussage der älteren Schwester des Opfers zu einer Szene mit dem Angeklagten im Badezimmer beschrieben.
Eine Leserin wandte sich an den Presserat und kritisierte die detaillierte Schilderung der Sexualstraftaten. Ihrer Meinung nach werde hierdurch in den Opferschutz eingegriffen, außerdem bediene der Artikel voyeuristische Interessen.
Die Medieninhaberin nahm am Verfahren teil. In einer schriftlichen Stellungnahme führte der Autor des Artikels aus, dass die Gewalttaten gegen das minderjährige Opfer nicht näher geschildert würden. Ausführlicher sei man auf zwei andere mutmaßliche Vergewaltigungen eingegangen, in diesen beiden Fällen seien die betreffenden Stieftöchter aber mittlerweile bereits volljährig. Nach Meinung des Autors sei der Persönlichkeitsschutz jedenfalls gewahrt, da über den Angeklagten nur sein Vorname, abgekürzter Nachname und Alter angegeben seien. Die beiden mutmaßlichen Opfer seien ausreichend anonymisiert worden. Schließlich sei die Darstellung gewisser Details zur Tat für das Verständnis dieser gerichtlichen Entscheidung essenziell; es bestehe ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit daran, Kenntnis über diese aufrüttelnden Taten zu erhalten, so der Autor.
In der mündlichen Verhandlung brachte die Rechtsanwältin der Medieninhaberin ergänzend vor, dass auch die Aufmachung des Artikels im Sinne einer ausführlichen Gerichtsreportage berücksichtigt werden müsse. Ansonsten wiederholten der Autor und die Rechtsanwältin im Wesentlichen nochmals die Argumente aus der schriftlichen Stellungnahme.
Der Senat hält zunächst fest, dass Medien beim heiklen Thema „sexueller Missbrauch“ einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung leisten können. Bei Berichten über konkrete Missbrauchsfälle darf allerdings das Leid, das die betroffenen Opfer und ihre Angehörigen erfahren, durch die Berichterstattung nicht vergrößert werden, etwa durch die Bekanntgabe grausamer oder intimer Details (vgl. Punkt 5.4 des Ehrenkodex für die österreichische Presse). Im vorliegenden Fall sind die betroffenen Opfer nach Auffassung des Senats zumindest für einen beschränkten Personenkreis identifizierbar: Dafür spricht zunächst, dass der Vorname, das Alter und der Beruf des mutmaßlichen Täters genannt werden; weiters geht aus dem Artikel hervor, wie viele Kinder er und wie viele Kinder seine Lebensgefährtin haben. Zudem werden private Details über eine Stieftochter angeführt. Wegen all dieser Details ist – jedenfalls für einen eingeschränkten Personenkreis – von einer Identifizierbarkeit der betroffenen Familie auszugehen.
In den Beiträgen werden mehrere grausame Details zu den vorgeworfenen Taten genannt;
die Schilderungen lassen unmittelbare Rückschlüsse auf die Art und Weise zu, wie die Missbrauchsfälle abgelaufen sind. Nach Auffassung des Senats ist die Veröffentlichung solcher Details geeignet, das Leid der Opfer und seiner Angehörigen zu vergrößern. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob diese Details zuvor in einem öffentlichen Gerichtsprozess erörtert wurden. Allein dieser Umstand befreit die Redaktion nicht von ihrer Verpflichtung, die Aussagen aus der Verhandlung auf die Verletzbarkeit der Persönlichkeitssphäre der Opfer hin zu prüfen. Die Opfer sollen auch nicht damit rechnen müssen, dass ihre Zeugenaussagen vor Gericht dazu führen, dass Medien diese in allen Details wiedergeben dürfen. Die Gerichtsöffentlichkeit ist nicht mit der Medienöffentlichkeit gleichzusetzen.
Im Sinne der bisherigen Entscheidungspraxis des Presserats verletzen die detaillierten Schilderungen zum Ablauf der sexuellen Missbrauchsfälle auch die Intimsphäre der Opfer – dies unabhängig davon, ob die Betroffenen zum Zeitpunkt der Tat bereits volljährig waren (Punkt 5 und Punkt 6 des Ehrenkodex). Zudem kann die genaue Schilderung der Missbrauchsfälle in den Medien auch zu einer neuerlichen Belastung der Familienangehörigen der Opfer führen, weshalb nach Auffassung des Senats auch auf die Persönlichkeitssphäre der Angehörigen nicht ausreichend Rücksicht genommen wurde.
Im Ergebnis wurde das Medium seiner Filterfunktion nicht gerecht, der Senat erkennt an einem derart detaillierten Bericht über sexuelle Missbrauchsfälle kein legitimes Informationsinteresse. Ferner besteht bei einer dermaßen genauen Schilderung auch die Gefahr, dass pädophil veranlagte Personen und Sexualstraftäter daran Gefallen finden könnten. Die Medieninhaberin wird sohin dazu aufgefordert, bei Missbrauchsfällen und Vergewaltigungen künftig sensibler zu berichten und dabei stärker auf den Persönlichkeitsschutz der Opfer und deren Angehörigen zu achten. Die Medieninhaberin von „derstandard.at“ wird aufgefordert, freiwillig über den Ethikverstoß zu berichten und den Beitrag im Sinne der vorliegenden Entscheidung anzupassen.
SELBSTÄNDIGES VERFAHREN AUFGRUND EINER MITTEILUNG EINER
LESERIN
Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der drei Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig.
Im vorliegenden Fall führte der Senat 1 des Presserats aufgrund einer Mitteilung einer Leserin ein Verfahren durch (selbständiges Verfahren aufgrund einer Mitteilung). In diesem Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht.
Die Medieninhaberin von „derstandard.at“ hat von der Möglichkeit, an dem Verfahren teilzunehmen, Gebrauch gemacht.
Die Medieninhaberin der Tageszeitung „DER STANDARD“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt.
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