2. Brief des österreichischen Journalisten Max Zirngast aus türkischer Haft
Wien/Ankara (OTS) – Der Österreichische Journalisten Club (ÖJC) veröffentlicht in Zusammenarbeit mit „#FREEMAXZIRNGAST“ einen weiteren übersetzten und redigierten Brief von Max Zirngast, den er am 4. November 2018 verfasste und der uns kürzlich erreicht hat. Zirngast wurde am 11. September 2018 in Ankara verhaftet. Der Vorwurf lautet „Nähe zu einer Terrororganisation“.
Der heute veröffentlichte Brief wurde in türkischer Sprache geschrieben, da die Zensurbehörde in den türkischen Gefängnissen keine Briefe in deutscher Sprache zulässt. Außerdem wurde der Brief stark gekürzt. Zum Verständnis haben wir einige Anmerkungen und Überschriften eingefügt, sie sind durch eckige Klammern markiert:
„Die Raum-Zeit des Strafregimes und seine Abwehr
Wir haben hier gewisse Routinen, aber manchmal begegnen wir auch gewissen Problemen. Zum Beispiel haben wir seit einer Woche kein Warmwasser mehr und die Heizung geht nicht mehr wegen irgendeinem Schaden. Natürlich frieren wir auch, aber das eigentliche Problem ist was anderes: Wir sind müder als sonst; lesen und schreiben, sich konzentrieren wird so schwieriger. Aber irgendwie kommen wir dennoch auf alle Probleme klar.
Die relative Isolation dauert an. Unsere Besucher*innen [jede*r Inhaftierte darf eine Liste mit drei Besucher*innen einreichen; innerhalb von 60 Tagen muss das Gefängnis darüber entscheiden, ob die gelisteten Personen das Besuchsrecht bekommen oder nicht; Anm. d. Red.] dürfen uns noch nicht besuchen. Diese bürokratischen Hürden werden uns in den Weg gelegt, weil wir hier ja mit konstruierten Terrorvorwürfen inhaftiert sind – obwohl uns noch keine einzige Straftat nach geltendem türkischen Recht nachgewiesen wurde, es ja noch nicht einmal eine Anklage gibt. Wie dem auch sei, aufregen nützt nichts, so läuft das hier eben.
Deshalb ist es etwas schwierig, von hier aus etwas [journalistisches, Anm. Red.] zu schreiben. Vor allem, wenn es schnell gehen soll. Das Zeitverständnis des Gefängnisses stimmt nicht überein mit der Zeit draußen. Ich versuche trotzdem mein Bestes. Vorantastend versuche ich hier eine neue Arbeitsweise zu begründen.
Ich möchte nochmal zum Leben, zu den Alltagsroutinen und zum Zeit-Raum-Komplex hier schreiben. Eventuell schaffe ich es nicht, alles in diesen Brief zu packen. Aber es wird ein Anfang sein. Ich möchte zuerst damit anfangen, die Architektur der F-Typ Gefängnisse [Typ des Hochsicherheitsgefängnisses, in dem Max inhaftiert ist; Anm. d. Red.] zu analysieren, danach gehe ich über in die Beschreibung eines normalen Tages von uns. Gegen Ende werde ich mehr einige theoretische Punkte machen und Umgangsformen, mit denen man das hier alles bewältigt, erläutern.
[Zeit und Raum im Gefängnis]
Obgleich wir also sogar nach geltendem Recht noch nicht verurteilt sind, werden wir bestraft. Die Strafe besteht nicht nur aus der „Entfernung von der Gesellschaft“; auch die objektiven und subjektiven Bedingungen, denen wir im Gefängnis ausgesetzt sind, sind eine Bestrafung. Insbesondere die objektiven Bedingungen des Gefängnisses – die Architektur, die Routinen, der Zeit-Raum-Komplex – haben bestimmte seelische und körperliche Effekte.
Am Anfang ist es notwendig, etwas über die Architektur zu sagen. Ich kann leider nicht viel zu Gefängnissen im Allgemeinen oder im Allgemeinen über Gefängnisse in der Türkei sagen. Ich selbst kenne nur den F-Typ. Mithat [Zellenkollege von Max; Anm. d. Red.] hingegen kennt den F-Typ, den D-Typ und den M-Typ. Der Großteil meines Wissens über Gefängnisse stammt von ihm.
In der Türkei gibt es viele unterschiedliche Gefängnistypen. Neben offenen Gefängnissen gibt es geschlossene Gefängnisse. Die geschlossenen Gefängnisse werden kategorisiert nach C, D, F, L, M usw. (ich weiß nicht genau, wie viele Kategorien es gibt). Im Allgemeinen wird – zumindest grob – unterschieden nach „Straftypen“. Der F-Typ ist für die „Politischen“, aber ab und an gibt es auch andere Häftlinge. In Sincan 1 sind wir eine Woche geblieben, seitdem bleiben wir in Sincan 2. Soweit wir das erfassen können, sind hier vor allem „FETÖ“-Inhaftierte [Abkürzung für „Fetullah Gülen Terrororganisation“; offizieller politischer und juristischer Terminus in der Türkei zur Bezeichnung von Angehörigen der Organisation des Predigers Fetullah Gülen; Anm. d. Red.]. Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es auch Inhaftierte, die der Mitgliedschaft beim IS oder der PKK bezichtigt werden. Weil wir keinen Kontakt haben, können wir hierzu aber nicht viel sagen. Soweit wir wissen sind die, die neben uns inhaftiert sind, Soldaten – also das heißt Gülenisten. Wir wissen zudem, dass in Sincan 1 auch Idris Baluken [HDP-Parlamentsabgeordneter, sitzt seit November 2016 im Gefängnis wegen „Terrorpropaganda“ in seinen Reden, ist zu derzeit über neun Jahren Haft verurteilt worden; Anm. d. Red.] einsitzt. Weil die Räume, in denen wir mit den Anwälten sprachen, voneinander mit Glaswänden [oder: Wänden mit Fenstern; Anm. d. Red.] getrennt waren, konnten wir die Nebenräume sehen. In Sincan 1 hatte Idris Baluken zur selben Zeit wie wir seine Anwaltsgespräche.
Der F-Typ ist, unseres Wissens nach, ein direkter Import aus den USA. Mithat sagt, dass sie in der Türkei ab 1980 gebaut wurden [am 12. September 1980 fand der bisher blutigste Militärputsch der modernen Geschichte der Türkei statt, der die Zerschlagung der Linken herbeiführte; Anm. d. Red.]. Die Architektur aller F-Typ Gefängnisse ist dieselbe. Zumindest was Sincan 1 und 2 angeht kann ich das selbst bestätigen. Mithat ist in Adana in einem F-Typ geblieben und meinte, dass auch dieses Gefängnis dieselbe Architektur hatte (es werden nur kleinere Veränderungen vorgenommen).
Im F-Typ gibt es 3er-Zellen. Aber natürlich bleiben nicht immer drei Personen in einer Zelle. Wir sind zu zweit, manche bleiben einzeln. Die Hauptfunktion des F-Typs ist die Isolation. Auch die Zahl von drei Personen ist gezielt gewählt; dies erlaubt nicht wirklich soziales Leben (zum Beispiel Spiele). Schon mit vier Personen – wie das in H-Typen üblich ist – ändert sich die ganze Situation ziemlich. Bei den Strategien des Umgangs muss man diese Realitäten vor Augen haben. Man muss die Nachteile in Vorteile umkehren. Wenn die Hauptbestrafungsform des F-Typs die Isolation ist, muss man ein Programm schaffen, das diesen konkreten Bedingungen entspricht – Einsamkeit, Stille, das Fehlen der Hektik des kontemporären urbanen Lebens heißt andererseits eben auch Möglichkeit der hohen Konzentration und der Verdichtung. Wir versuchen uns fortzuentwickeln bei Abwesenheit [schwer leserlich, vermutlich: des Alltagsstresses].
Im F-Typ sind die Zimmer doppelstöckig. Jede Zelle hat einen etwa zehn mal fünf Meter großen Hof. Vom Korridor aus geht eine Tür in den jeweils unteren Stock sowie in den Hof. Von der Zelle aus geht eine Tür Richtung Hof. Morgens bei der Zählung wird die Tür von den Wächtern aufgemacht, abends gegen sechs Uhr wird sie wieder zugemacht. An der Tür zum Korridor gibt es ein Gitter. Die ganze Kommunikation läuft fast vollständig über dieses Gitter. Durch dieses werden uns Essen, Kleider, Briefe und so weiter durchgegeben. Neben der Tür zum Hof ist die Dusche. In Sincan 2 gibt es keinen Duschkopf. Wir müssen das warme Wasser in einen Eimer geben und uns mit einer Schüssel duschen. In Sincan 1 gab es einen Duschkopf und jederzeit Warmwasser. In Sincan 2, wie im letzten Brief beschrieben, nur zu bestimmten Zeiten. Derzeit gibt es überhaupt kein Warmwasser und auch die Heizung funktioniert kaum. Angeblich wegen eines Schadens im Heizofen. Um uns zu rasieren und zu duschen machen wir das Wasser mittlerweile im Wasserkocher warm.
Im unteren Stock gibt es so etwas wie eine Küche. Das heißt, es gibt ein Spülbecken und einen Schrank und daneben einen Ort, an den man einen Kühlschrank hinstellen kann (wir haben keinen gekauft, weil es für uns nicht so viel Sinn macht). Es geht eine Treppe nach oben, oben gibt es drei Betten und drei Schränke. Unten gibt es ein Radio (immer nur einen Kanal, was die Wächter so hören – das ist generell TRT Fm [TRT ist der staatliche Radio- und Fernsehsender in der Türkei; Anm. d. Red.], abends das Diyanet Radio [Diyanet ist das Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei; Anm. d. Red.]). Einen Fernseher dürfen wir haben, wir wollen aber keinen. Das einzige elektronische Gerät bei uns im Zimmer ist der Wasserkocher. Es gibt noch einen Plastiktisch und zwei Plastikstühle.
Die genutzten Materialien sind bewusst ausgewählt. Die drei Hauptmaterialien sind Beton, Eisen und Glas. Die Fenster bestehen aus Glas, sind aber mit Eisengittern und -draht versperrt. Im Bad gibt es Fliesen, einen Spiegel und ein Waschbecken. Außerdem gibt es noch einige Plastikmöbel (von den Küchenutensilien besteht nichts aus Porzellan oder Holz oder ähnliches). Sprich: Ganz bewusst werden keinen „lebendigen“ Materialien wie Holz verwendet. Die einzigen Pflanzen sind ein paar Moose im Hof. Unser Lebensraum ist also „kalt“, leblos und ohne irgendwas Schönes gestaltet. Der Hof ist nach oben hin sehr hoch, ganz oben aber von NATO-Draht und gewissermaßen einem Dach aus Draht abgesperrt. Wegen dieser Höhe fällt – insbesondere im Winter – kaum Sonne in den Hof. Aber wir haben Glück:
Unser Zimmer ist zum Osten hin und so haben wir dort relativ viel Sonne. Wir achten darauf, dass wir uns zur Mittagszeit „sonnen“ und Vitamin D auftanken.
Auch von Hygieneaspekten her war Sincan 1 besser als Sincan 2. Die Zelle, in der wir uns jetzt befinden, ist ganz schön schmutzig. Der Putz an der Wand platzt ab, das Eisen ist verrostet, die Tür zum Hof lässt sich sehr schwer öffnen und das Bad ist sehr feucht. Vor allem das verrostete Eisen und das rostige Wasser aus dem Wasserhahn sind ganz schön unangenehm.
Ein Tag im Gefängnis
Auf dem Hintergrund dessen, was ich euch gerade beschrieben habe, lässt sich verstehen, wie ein normaler Tag bei uns abläuft. Viel von der Routine und den Zeitabläufen habe ich ja schon im letzten Brief erzählt. Ich wiederhole nur knapp und führe nochmal andere Dinge ein bisschen aus.
Nicht jeder Tag läuft gleich bei uns ab. So treiben wir zum Beispiel vier Mal in der Woche eine bis eine Stunde und 15 Minuten lang Sport. Außerdem gibt es Gelegenheiten wie Besuche (auch wenn dies bisher sehr selten stattgefunden hat), Anwaltsbesuche, Telefongespräche und alle zwei bis drei Wochen Sport im geschlossenen Sportsaal, an denen wir aus unserer Zelle rauskommen. Und einmal in der Woche ist Kantinentag, da kommen die Sachen an, die wir in der Kantine bestellt haben (Schreibutensilien, Putzmittel, Hygieneutensilien, einige Lebensmittel). Einmal in der Woche kommt Obst und Gemüse.
Wie gesagt wache ich morgens gegen 7:00 Uhr auf, gehe hinunter, lese oder bereite Briefe vor, dann frühstücken wir gemeinsam. Das Frühstück wird uns übrigens am Abend zuvor überreicht und ist oft recht dürftig. Wir kaufen den Großteil der Sachen dazu: grüne und schwarze Oliven, Tomaten, Gurken und so weiter. Manchmal erhält Mithat noch zusätzlich Eier und Käse. Tee und Kaffee machen wir uns selbst. Nach dem Frühstück ziehen wir uns an und bereiten uns auf die Zählung vor. Die findet normalerweise morgens gegen 8:15/8:30 Uhr und abends um 20:15/20:30 Uhr statt. Bei Dienstwechsel der Wächter werden die Zellen vollständig kontrolliert. Für die Zählung muss man Hose, Schuhe und so weiter angezogen haben. Wir achten darauf, dass wir den ganzen Tag über angezogen bleiben (außer in den Zeiten, in denen wir Sport treiben). Wir achten also darauf, niemals „unvorbereitet“ zu sein. Wie im letzten Brief erwähnt, werden morgens bei der Zählung auch Briefe, Anträge (alles im Gefängnis hier läuft auf Basis von Anträgen) und Einkaufszettel für die Kantine abgegeben.
Danach machen wir Sport und lesen bis zum Mittagessen (ca. 12:30 Uhr). Zum Mittagessen erhalten wir pro Person ein Stück Brot und die Zeitung. Bisher, wie gesagt, die Hürriyet, ab November dann auch Dünya [Wirtschaftszeitung; Anm. d. Red.] und Evrensel [linke Tageszeitung; Anm. d. Red.].
Die Qualität des Essens variiert gewaltig. Manchmal kommt wenig, manchmal viel. Eintöpfe werden oft mit sehr viel schlechtem Fett gekocht. Deshalb haben wir aus einem 5-Liter-Wasserbehälter eine Art Filter gemacht, indem wir den Behälter in der Hälfte aufgeschnitten und unten Löcher gemacht machen. Wenn das Essen zu fettig ist, „filtern“ wir es damit, waschen es und essen es erst danach.
Ich versuche immer noch, veganes Essen zu bekommen. Bisher bekomme ich aber nur vegetarisches Essen. Dieses Problem löse ich bisher so, dass ich halt aus dem Gemüse, das wir kaufen, Salate mache. Zwischendurch esse ich Nüsse, Obst, Kekse und dergleichen.
Danach Abwasch und Zeitungslesen. Ab 15 Uhr wieder Bücher lesen bis zum Abendessen (17:15-30 Uhr). Um 18 Uhr geht unsere Tür zu und wir lesen wieder. Nach der Zählung am Abend schreiben wir Briefe, unterhalten uns oder lesen Romane. Gegen 23 Uhr geht’s ins Bett.
[Kampf gegen die Zermürbung]
So in etwa laufen unsere Tage ab. Wie sich daraus leicht ersehen lässt, fangen sich mit der Zeit an die Tage zu ähneln. Die Monotonie ist eines der größten Probleme, mit denen man hier einen Umgang finden muss. Die Grundlage des uns aufgezwungenen Strafregimes ist ein spezifischer Raum-Zeit-Komplex. Tagtäglich schauen wir auf dieselben Wände und können nur begrenzt tätig sein. Diese Wirklichkeit gekoppelt mit subjektiven Herrschaftsbeziehungen wie sie sich in den Wächtern verkörpern – Kommunikation und Kontakt finden fast ausschließlich nur mit ihnen statt – können dazu führen, dass die Inhaftierten gebrochen, paralysiert und zermürbt werden. Diese Gefahr hängt wie ein Damoklesschwert die ganze Zeit über uns. Um dieser Gefahr zu begegnen bedarf es meiner Meinung nach dreierlei:
Disziplin, Kreativität und Solidarität – zwischen den Inhaftierten aber auch der Außenwelt mit uns. Was genau ich mir dazu denke, schreibe ich ausführlicher in ein paar Tagen in meinem nächsten Brief.“
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