Alternde Gesellschaft: Expert:innenforum im Bundesrat beleuchtet sozioökonomische Herausforderungen des demografischen Wandels
Die Herausforderungen und Chancen einer alternden Gesellschaft standen im Zentrum der Fachvorträge im Rahmen des heutigen Expert:innenforums im Bundesrat „Österreich wird älter – Auswirkungen der Demografie auf das Gesundheits- und Pflegesystem“ im Parlament. So widmete sich Monika Riedel, Gesundheitsökonomin und Sprecherin für Pflege am Institut für Höhere Studien, den Effekten des demografischen Wandels auf das Pflegesystem und Florian Bachner, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie und -systemanalyse an der Gesundheit Österreich GmbH, konstatierte ein „Trilemma“ der Demografie im Gesundheitsbereich. Soziologe und Leiter des Kompetenzzentrums für Gerontologie und Gesundheitsforschung der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Franz Kolland, zeigte in seinem Vortrag neue Perspektiven auf das Alter als Prozess auf. Jugend-Staatssekretärin Claudia Plakolm erörterte die Herausforderungen, vor die der demografische Wandel auch die Generation Z stelle.
Riedel: „Pflegeberufe attraktiver machen“
Die Zahl der Pflegegeldbezieher:innen werde im Zeitraum von 2021 bis 2050 laut einer aktuellen Studie um 57 % ansteigen, sagte Monika Riedel, Sprecherin für Pflege vom Institut für Höhere Studien. Dieser Anstieg der Pflegebedürftigen bringe einerseits eine Kostensteigerung mit sich und führe andererseits vor allem zu einem hohen zusätzlichen Bedarf an Pflegeleistungen. Demzufolge werde der Zusatzbedarf an Pflegekräften bis zum Jahr 2030 auf 17.000 bis 18.000 Personen geschätzt, so Riedl.
Grund für den hohen Bedarf an Pflege sei nicht nur das steigende Alter der Bevölkerung an sich, sondern insbesondere der Gesundheitszustand der alternden Gesellschaft. So sei eine steigende Multimorbidität zu beobachten – das heißt immer mehr Personen leben mit mehr als drei chronischen Krankheiten. Weiters gebe es eine Zunahme bei kognitiven Einschränkungen – laut einer Schätzung leben in Österreich derzeit 130.000 bis 150.000 Personen mit Demenz. Auch die Veränderung der Rahmenbedingungen wirke sich auf das Thema Pflege aus, sagte Riedel. So führe unter anderem die steigende Erwerbstätigkeit von Angehörigen dazu, dass immer weniger innerfamiliäre Pflege möglich sei. Veränderungen der Haushaltsstruktur – wie beispielsweise größere Entfernungen zwischen Familienmitgliedern – habe ebenfalls Auswirkungen auf die Situation in der Pflege.
Sie sei „skeptisch“, dass der zunehmende Bedarf an Pflegepersonal mit dem Anwerben von Kräften aus dem Ausland gedeckt werden könne. Mehr Pflegepersonal aus der heimischen Ausbildung halte sie für wichtig, betonte Riedel. Entscheidend sei zudem, die bestehenden Kapazitäten besser zu nutzen und Pflegeberufe attraktiver zu machen. Denn bereits jetzt würden 64 % des Pflegepersonals angeben, dass es „eher oder sehr unwahrscheinlich“ sei, dass es in seinem körperlich sehr anstrengenden Beruf bis zur Pension durchhalten werde.
Es brauche mehr gelebte Wertschätzung gegenüber Pflegeberufen, dies umfasse unter anderem bessere Bezahlung, so Riedel. Wichtig seien auch familienfreundlichere Arbeitszeiten sowie Arbeitserleichterungen durch technische und digitale Möglichkeiten. Zudem sprach sie sich für den Abbau des Konkurrenzdenkens zwischen der Arbeit in der Langzeitpflege und der Akutpflege in den Spitälern aus. Auch unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern seien nicht hilfreich, so Riedel. Mit Blick auf die steigenden Kosten der Pflege gewinne zudem die Prävention der Pflegebedürftigkeit an Bedeutung. Riedel forderte außerdem die Aufwertung der mobilen Pflege, denn diese bringe als zusätzlichen Gewinn auch geografisch verstreute Arbeitsplätze.
Bachner: „Ausgaben in Bildung sind beste Gesundheitsausgaben“
Florian Bachner, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie und -systemanalyse von „Gesundheit Österreich“, sprach in seinem Vortrag von einem „Trilemma der Demografie im Gesundheitswesen“. Er führte aus, dass es im Hinblick auf die demografische Alterung drei Seiten gebe, die sich gegenseitig ungünstig beeinflussen. Dies sei erstens eine steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Dem stehe als zweites Problem immer weniger Erwerbstätige gegenüber, was auch dazu führe, dass sich das Gesundheitspersonal verknappe. Als drittes Problem führe dies wiederum zu einer reduzierten Finanzierungsgrundlage für das Gesundheitssystem, weil weniger Steuer- und Beitragszahlungen zur Verfügung stehen.
Mit Verweis auf die steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen führte Bachner aus, dass Personen bis 59 Jahren statistisch gesehen jährlich etwa zwölf Mal das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen. In der Gruppe der Personen über 60 Jahren, erhöhe sich die Inanspruchnahme auf 27 Aufenthalte oder Kontakte pro Person. Daher sei die entscheidende Frage, wie die Bevölkerung gesünder altern könne und der Zugewinn an Lebenserwartung in guter Gesundheit verbracht werden könne. Die Forschung belege, dass eine deutliche Verbesserung der Gesundheit im hohen Alter mit hohem Bildungsniveau einhergehe. Für Männer führe hohes Bildungsniveau zu zusätzlich acht Jahren in guter Gesundheit, bei Frauen seien es sechs zusätzliche Jahre. Daher seien „Ausgaben in Bildung die beste Gesundheitsausgabe“, sagte Bachner. Beim näheren Blick auf das zweite Problem – der Knappheit an Gesundheitspersonal – verwies Bachner auf eine bevorstehende Pensionierungswelle. Denn etwa ein Drittel der Ärzt:innen sei älter als 55 Jahren, bei den niedergelassenen Vertragsärzt:innen sei es 2023 sogar bereits die Hälfte gewesen. Dazu komme, dass Ärzt:innen in Österreich ungleich verteilt seien – so gebe es einerseits Unterschiede in Städten und am Land und andererseits nach Fachrichtungen. Hinsichtlich der Grundlagen zur Finanzierung des Gesundheitssystems gebe es nur begrenzt Möglichkeiten, die demografische Struktur kurzfristig zu beeinflussen, gab Bachner zu bedenken. Er sprach sich für die Erhöhung der Erwerbsquoten – also längeres Arbeiten und mehr Berufstätigkeit von Frauen – aus. Zudem könne die Immigration von Arbeitskräften ökonomische Auswirkungen der Bevölkerungsalterung mildern. Notwendig sei „echte Strukturreformen“, sagte Bachner.
Wie auch seine Vorrednerin forderte auch Bachner Strategien zur Attraktivierung von Gesundheits- bzw. Pflegeberufen. Weiters wies er darauf hin, dass es „Brückenlösungen“ brauche, um den punktuellen Ärzt:innenmangel entgegenzuwirken, da sich eine Erhöhung der Studienplätze erst frühestens in zehn Jahren auswirke. Geboten sei zudem die Attraktivierung des Kassensegments. Auch die Technologie werde „uns helfen müssen“, sagte er und nannte das Potential von Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und Robotik zur Steigerung der Effizienz. Ein verstärkter Fokus müsse zudem auf Prävention und Gesundheitsförderung gesetzt werden.
Kolland plädiert für neue Perspektiven auf das Alter abseits des Kalenders
Franz Kolland richtete seinen Blick auf die soziologischen Aspekte des Alterns als Prozess. Er sprach von einer problematischen Sicht auf diese Lebensphase, die vor allem mit Gebrechlichkeit und Abhängigkeit in Zusammenhang gebracht werde. Dies wirke sich aufgrund der damit einhergehenden Stigmatisierung wiederum ungünstig auf das Altern selbst aus. Wenn über ältere Personen vor allem in Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit gesprochen werde, übersehe man, dass die meisten Menschen auch im Alter nicht „funktionell krank“ sind, so Kolland. Auch die Demografie ziehe weitgehend nur das kalendarische Alter heran, welches jedoch wenig über das biologische Alter aussage.
Der Altersprozess sei in „biopsychosozialer“ Hinsicht Änderungen unterworfen, plastisch – könne also auch auf individueller Ebene beeinflusst werden – und hänge wesentlich von sozialen Aspekten ab. So seien etwa 45 % der Demenz-Prävalenz nicht genetisch bestimmt und könnten etwa durch günstige Umweltbedingungen beeinflusst werden, die es zu schaffen gelte. Bildung sei einer der wesentlichen Prädiktoren für gutes Altern. Kolland plädierte also für einen vorsichtigen Umgang mit Zuschreibungen bezüglich des Alters und eine stärkere Berücksichtigung subjektiver Faktoren, die einen ausschlaggebenden Einfluss auf dessen Verlauf hätten.
Staatsekretärin Plakolm über die „Generation Zuversicht“
Staatssekretärin Claudia Plakolm freute sich, dass das Expertenforum sich generationsübergreifend mit dem demografischen Wandel befasse, da dieser auch junge Menschen vor große Herausforderungen stelle. Hätten früher statistisch vier Erwerbstätige eine Pension „gestämmt“, würden es im Jahr 2030 nur noch zwei sein. Dieses Verhältnis beeinflusse auch den „Generationenvertrag“. Dazu kommen laut Plakolm Unsicherheitsfaktoren, wie globale Krisen, denen sich die Jugend ausgesetzt sehe. Trotzdem stecke die Generation Z nicht den „Kopf in den Sand“ und blicke zuversichtlich in die Zukunft, wie Studien bestätigen würden. Es handle sich um eine „grundvernünftige Generation“, die großen Wert auf Sicherheit lege und sich stark mit dem Thema Gesundheit befasse. In beruflicher Hinsicht stünden bei der „Generation Zuversicht“ weder das Gehalt noch die Arbeitszeiten im Zentrum, wie oftmals medial behauptet werde, sondern die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, wie Plakolm ausführte.
Als für den Zivildienst zuständige Staatsekretärin ging Plakolm zudem auf dessen Rolle als „Headhunter“ für den Sozial- und Pflegebereich ein. Der Zivildienst öffne vielen jungen Männern die Augen für dieses Berufsfeld. Circa ein Drittel der Zivildiener bleibe zumindest ehrenamtlich im sozialen Bereich tätig. Die Bundesregierung habe außerdem die Möglichkeit geschaffen, während der Zeit des Zivildienstes eine Grundausbildung für die Pflege zu absolvieren, die auch in der Pflegelehre angerechnet werden könne, so Plakolm. Um attraktiver für junge Menschen zu werden, gelte es jedoch vor allem auch das Berufsbild zu verbessern. (Fortsetzung Expert:innenforum) bea/wit
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