110 Jahre Erster Weltkrieg: „Menschen & Mächte“ dokumentiert den „Weg in den Untergang“ | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

110 Jahre Erster Weltkrieg: „Menschen & Mächte“ dokumentiert den „Weg in den Untergang“

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Wien (OTS) – „Mein Urgroßvater ist gewarnt worden, aber er hätte nie gekniffen!“ Anita Hohenberg, Urgroßenkelin Franz Ferdinands, sieht das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 als Teil ihrer Familiengeschichte, für Europa ist es der Auslöser der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. 110 Jahre danach, am Dienstag, dem 25. Juni 2024, erzählt die „Menschen & Mächte“-Dokumentation „Der Weg in den Untergang“ von Robert Gokl und Leo Bauer (Reenactment-Regie) in Zusammenarbeit mit internationalen Historikern um 22.35 Uhr in ORF 2 und auf ORF ON, wie es zum Attentat von Sarajevo kam. Aber auch wie Österreich-Ungarn die Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand dazu missbrauchte, einen Krieg gegen Serbien vom Zaun zu brechen, der schließlich zum globalen Krieg wurde. „Der Weg in den Untergang“ entstand als Koproduktion von ORF, Metafilm und BMBF, gefördert von Fernsehfonds Austria, Land Niederösterreich und Filmfonds Wien.

„Schandvertrag“, „Siegerdiktat“, „Knebelpapier“ – das waren die Prädikate für den Friedensvertrag von Saint-Germain nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Um 23.25 Uhr geht Andreas Novak in seiner „Menschen & Mächte“-Dokumentation „Trauma, Träume und Tragödien“ der Frage nach, welche Auswirkungen und Folgen dieser Vertrag auf die politische Entwicklung der Ersten Republik hatte.

„Weg in den Untergang“ – ein Film von Robert Gokl und Leo Bauer

„Es waren naive Jugendliche, unglaublich jung! Zwei waren noch Schüler!“ meint David James Smith, Autor des Buches „One Morning in Sarajevo“. Es war eine Verkettung von Zufällen und Missgeschicken, die schließlich dazu führte, dass einer dieser Jugendlichen, Gavrilo Princip, an einer Straßenecke in Sarajevo auf den Thronfolger Franz Ferdinand traf und ihn mit einer Kugel erschoss. Die zweite Kugel hätte Oskar Potiorek treffen sollen, den zivilen und militärischen Oberbefehlshaber von Bosnien-Herzegowina – und nicht Sophie, die Frau Franz Ferdinands. Attentate auf gekrönte Häupter hatte es immer wieder gegeben, aber noch nie wurde ein Staat dafür verantwortlich gemacht: in diesem Fall Serbien. „Und daher ist Sarajevo etwas Einzigartiges, weltgeschichtlich kaum Vergleichbares“, sagt Historiker Manfried Rauchensteiner.

Vom Tag des Attentats in Sarajevo sind nur wenige Fotografien und einige Sekunden Film erhalten, nichts davon vom Attentat selbst. Für die Dokumentation „Der Weg in den Untergang“ wurde dieser Wendepunkt der Geschichte vor einer computergenerierten Sarajevo-Kulisse unter der Regie von Leo Bauer inszeniert – mit Martin Muliar als Franz Ferdinand, Gisela Salcher als Sophie, Peter Moucka als Oskar Potiorek und Vedran Kos als Gavrilo Princip. Hinter der Kamera: Helmut Wimmer.

Franz Ferdinands Besuch in Sarajevo sollte zeigen, wie wichtig dem Haus Habsburg seine jüngste Provinz war. Bosnien-Herzegowina war 1908 von Österreich-Ungarn annektiert worden, im 60. Regierungsjahr von Kaiser Franz Joseph. Ein „Pyrrhussieg“ für den Vielvölkerstaat, sowohl innen- als auch außenpolitisch: Die Nationalitätenspannungen in der Monarchie verschärften sich, ebenso wie der Kampf um Macht und Einfluss am Balkan. Serbien verbündete sich mit Russland und baute seine Beziehungen zu Frankreich aus. Franz Joseph quittierte die politische Wende mit Wirtschafts- und Agrarboykott – ein schwerer taktischer Fehler, Frankreich sprang mit Lieferungen und dem Bau von Konservenfabriken ein. Oskar Potiorek befürwortete bereits seit Jahren einen Krieg gegen Serbien. Das Attentat lieferte ihm und der „Kriegspartei“ in Wien weitere Argumente für eine serbische Offensive. Ein schnell errungener Sieg würde dem Haus Habsburg Ansehen bringen, der k. u. k. Armee Ruhm und Oskar Potiorek die Beförderung zum Generalstabschef und damit die Nachfolge von Conrad von Hötzendorf.

Im Kampf der Großmächte um die Vormachtstellung in Europa hatte Österreich-Ungarn allerdings schon lange die schlechteren Karten. Ohne Kolonien und industriell rückständig verklärte es die ruhmreiche Geschichte seines Herrscherhauses und versuchte, zumindest auf dem Balkan eine regionale Führungsrolle zu spielen. Von Anfang an war klar, dass eine Kriegserklärung Österreich-Ungarns zu einem globalen Krieg führen konnte. Manfried Rauchensteiner: „Von Franz Joseph ist erzählt worden, er wäre bis zum Schluss friedensliebend gewesen. Das ist alles in das Reich der Legende zu verweisen. Und er hat gewusst, dass Russland möglicherweise voll hinter Serbien stehen würde.“ Im Juli 1914 fand ein diplomatischer Wettlauf zwischen Kriegsgegnern und Kriegsbefürwortern statt. Die Kriegstreiber entschieden ihn für sich –- mit einer letztlich fatalen Mischung aus Fehleinschätzungen, politischem Leichtsinn, konstruierten Fakten, Täuschung und Betrug. Ebenso realitätsfern agierte der militärische Oberbefehlshaber in Bosnien, Oskar Potiorek. Er überschätzte sich selbst und seine Truppen völlig. Ein militärischer „Spaziergang“ hätte es werden sollen, ein rascher Sieg, die Bestätigung der eigenen Überlegenheit:
„Serbien muss sterbien!“ Drei blutige Offensiven endeten zu Weihnachten 1914 im blamablen militärischen Fiasko für Potiorek und die Monarchie. Potioreks Fehler führten zu schweren Verlusten der k. u. k. Truppen. Gleichzeitig kam es zu schweren Kriegsverbrechen an serbischen Zivilisten.

Heute ist der Beginn des Ersten Weltkriegs an der Serbien-Front beinahe vergessen – überlagert von der Erinnerung an die West-Front, die Dolomiten-Front und die Galizien-Front. 1918, vier Jahre später, hatte die serbische Befreiungsbewegung ihr Ziel erreicht, ein großes, geeintes Jugoslawien; die Habsburgermonarchie war zerfallen, Österreich vom Großreich zum Kleinstaat reduziert, die politische Landschaft Europas völlig verändert. Und die Urkatastrophe zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte 17 Millionen Menschen das Leben gekostet.

„Trauma, Träume und Tragödien – Ein Friedensvertrag und seine Folgen“ – ein Film von Andreas Novak

Im Schloss Saint-Germain-en-Laye bei Paris legten die Siegermächte 1919 die staatspolitische und geografische Neuordnung Österreichs fest. Die Kriegsverlierer – das nicht mehr existente ehemalige wilhelminische Kaiserreich und die ebenfalls zusammengebrochene Donaumonarchie, repräsentiert durch eine Delegation unter Führung von Staatskanzler Karl Renner – waren zu Statisten degradiert. Die Westmächte diktierten die geografische Neuordnung. „Deutsch-Österreich“ wird kleingeschrumpft, vom Vielvölkerstaat mit rund 55 Millionen Einwohnern zur Republik mit lediglich 6,5 Millionen. „Der Rest ist Österreich“, meinte der französische Chef-Verhandler und Ministerpräsident Georges Clemenceau.

Als Tiefschlag empfanden Volk und Regierung das in Saint-Germain verordnete „Anschlussverbot“ an die Weimarer Republik. Die Folge:
kollektive Empörung im Land. Dazu kam ganz im Sinne der versuchten Demilitarisierung Deutschlands und Österreichs die Reduktion des österreichischen Heeres auf maximal 30.000 Berufssoldaten, einhergehend mit dem Verbot der allgemeinen Wehrpflicht. Nicht nur von Offizieren und Berufssoldaten war nun mentale Abrüstung gefordert, der Abschied vom Großraumdenken, die Integration in eine Friedens- und Zivilgesellschaft. Das jedoch sollte scheitern, denn recht bald fanden viele nach 1918 arbeitslos gewordene Soldaten in den neu gegründeten paramilitärischen Verbänden wieder Verwendung.

Durch die Abkoppelung der Nachfolgestaaten der Monarchie gehen wichtige Industrie- und Handelsgebiete ebenso verloren wie Absatzmärkte. Die neuen Länder verhängen zudem hohe Schutzzölle über die österreichische Warenkonkurrenz. Die von England und Frankreich gewährten Kredite sind mit der Bekräftigung des Anschlussverbots verbunden. Gleichzeitig kommt es zur direkten Einflussnahme auf die Wirtschafts- und Budgetpolitik, da die Schuldner den Weg des Sanierungskurses bestimmen: höhere Steuern, eiserner Sparkurs und Preiserhöhungen. Das wiederum bremst den öffentlichen Konsum, führt zu Entlassungen und letztlich zur Massenverarmung breiter Bevölkerungsschichten. All das sollte in den folgenden Jahren fatale politische, soziale und wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen.

Und so entwickelt sich die Erste Republik zunehmend zu einer mit immer weniger Republikanern. Neben Österreich verwandelt sich auch eine Reihe anderer aus den Verträgen von Saint-Germain hervorgegangener Länder nach kurzen demokratischen Intermezzi zu autoritären Staaten. Aus der Weimarer Republik etwa wird das „Dritte Reich“, geführt von einem ehemaligen Gefreiten des Ersten Weltkriegs, der mit der „Schandvertragsrhetorik von 1918 und der in den Schmutz getretenen Ehre des deutschen Volkes“ zu dessen „Führer“ aufsteigt.

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