Vielfalt des Gedenkens: Parlament unterstreicht die Wichtigkeit zeitgemäßer Erinnerungskultur und Vermittlung | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

Vielfalt des Gedenkens: Parlament unterstreicht die Wichtigkeit zeitgemäßer Erinnerungskultur und Vermittlung

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Anlässlich des 79. Jahrestags der Befreiung des KZ Mauthausen hielten Nationalrat und Bundesrat ihre jährliche gemeinsame Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ab. Schwerpunkt der Veranstaltung im Saal der Bundesversammlung unter dem Titel „Die Vielfalt des Gedenkens“, waren die Herausforderungen für das Gedenken in einer Zeit, in der keine unmittelbaren Zeitzeugen mehr zur Verfügung stehen. Für die Vermittlungsarbeit an Orten der Erinnerung, wie der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, ergeben sich damit neue Herausforderungen, wie die Direktorin der Gedenkstätte, Barbara Glück, in einem Gespräch deutlich machte.

Die Redebeiträge der Veranstaltung standen unter dem Zeichen der Erinnerung an den terroristischen Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka betonte die Solidarität des Parlaments mit dem Staat Israel und bekräftigte, dass es wichtig sei, das „Nie wieder!“ auch auf die Gegenwart anzuwenden, wenn das Gedenken nicht zum sinnentleerten Ritual werden solle. Auch Bundesratspräsidentin Margit Göll kritisierte die „Manifestationen des Antisemitismus“ bei anti-israelischen Demonstrationen.

Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel wies darauf hin, dass eine „Israelisierung“ des Antisemitismus wahrzunehmen sei. In der Verschmelzung von Judenhass und Israelhass werden laut der Forscherin alte antisemitische Stereotypen unter dem Deckmantel der „Israelkritik“ wieder aktiviert.

Sobotka: Gedenken darf nicht zum sinnentleerten Ritual werden

In seinen Eröffnungsworten erinnerte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka an die lange Vorgeschichte des Judenhasses und Antisemitismus, die letztlich in der Schoah gipfelte. Bereits ab den 1920er Jahren hätten etwa die Naturwissenschaften mit ihren Überlegungen zur Eugenik den späteren Gräueltaten des Nationalsozialismus eine pseudowissenschaftliche Legitimation gegeben. Heute bestehe die Gefahr, dass im Sinne eines Postmodernismus in den Geschichts- und Sozialwissenschaften Fakten beliebig interpretierbar gemacht werden. Ein Ausdruck davon sei etwa, wenn Israel als „postkolonialer Apartheitsstaat“ denunziert und ihm das Existenzrecht abgesprochen werde.

Wenn das „Nie wieder“ ernst genommen werde, bedeute das angesichts der schrecklichen Ereignisse des 7. Oktober uneingeschränkte Solidarität mit Israel, sagte der Nationalratspräsident. Daher sei er den Parteien und allen Abgeordneten des Hohen Hauses sehr dankbar, dass es für sie selbstverständlich war, die Verbrechen der Hamas einstimmig, unmissverständlich und ohne jedes „Aber“ zu verurteilen. Er sei dankbar dafür, dass diese grundsätzliche Haltung bis heute Bestand habe.

Der Aufruf „Nie wieder!“ sei weiterhin aktuell. Daher sei dem österreichischen Parlament die stetige Erneuerung des erinnernden Gedenkens ein großes Anliegen. Zu befürchten sei allerdings, dass es schon längst „verschlafen“ wurde,  nach der Parole „Wehret den Anfängen“ auch entsprechend zu handeln, warnte er. Das gelte in Europa, den USA und in Kanada, an den Universitäten und teilweise auch in Österreich. Heute sei eine neue Eskalation von Hetze hin zu Gewalt und Mord festzustellen, sagte Sobotka unter Verweis auf die  Ereignisse des 7. Oktober.

Europa und Österreich müsse es vor diesem Hintergrund gelingen, „ein positives, kritisches Verhältnis zu seiner Geschichte und Kultur zu finden, und zu artikulieren worauf wir zurecht Stolz sein dürfen, und gleichzeitig erkennen, was wir ändern müssen, den Unterschied zwischen unserer eigenen und den anderen Kulturen zu begreifen, und die richtigen nachhaltigen Schlüsse daraus zu ziehen“, sagte Sobotka. Ansonsten werde das erinnernde Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus diesen und ihren Nachkommen nicht gerecht und mutiere zu einem sinnentleerten Ritual.

Glück: Gedenken muss eine Herzensangelegenheit sein

Hinter jedem einzelnen der Opfer des KZ-Systems stehe eine individuelle Lebensgeschichte, sagte Barbara Glück, Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen im Gespräch mit der Journalistin Rebekka Salzer. Die Vielfalt der Opfer des NS-Regimes komme auch in der Vielfalt der Formen des Gedenkens an sie zum Ausdruck und zeige sich auch bei den Besucher:innen der Gedenkstätte.

Das Wiedererstarken des Antisemitismus in letzter Zeit stelle auch für die Gedenkstätte und ihre Vermittlungsarbeit eine besondere Herausforderung dar. Vor allem die Frage, mit denen die Gedenkstätte Besucher:innen immer konfrontiere: „Was hat das mit mir zu tun?“, erhalte dadurch eine besondere Aktualität. Von den über 300.000 Besucher:innen der Gedenkstätte jedes Jahr seien mehr als 50.000 junge Menschen. Für sie sei eine gute Vor- und Nachbereitung des Besuchs  besonders wichtig. Die Verbindungen zum Schulsystem seien immer enger geworden. Wichtig sei, dass die Vermittlungs- und Bildungsarbeit nur in der Zusammenarbeit vieler Menschen und Organisationen gelingen könne.

Gedenkstätten hätten heute erkannt, dass sie nicht nur darauf warten dürfen, dass die Menschen zu ihnen kommen, merkte Glück an. Sie müssten hinausgehen und versuchen, auch jene zu erreichen, die sich nicht mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben, die andere Meinungen zum Gedenken haben oder die ein solches nicht unterstützen. Soziale Medien gäben die Chance, auch mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen. Dazu habe die Gedenkstätte eine eigene Sprache und die Kenntnisse entwickeln müssen, um das entsprechend umsetzen zu können.

Einen besonderen Schwerpunkt der Arbeit der KZ-Gedenkstätte Mauthausen bilde derzeit die Erweiterung der KZ-Gedenkstätte Gusen, berichtete Glück. Hier habe der im Oktober 2023 abgeschlossene Beteiligungsprozess viele Interessengruppen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zusammengeführt und den notwendigen Austausch in Gang gesetzt. Glück erinnerte daran, dass die Gedenkstätte Gusen ohne das Engagement von Überlebenden und zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht entstehen hätte können. Unerlässlich war es laut Glück, alle Betroffenen, darunter auch die Anrainer:innen, in die Diskussion darüber einzubinden, wie der Ort des Gedenkens in Gusen gestaltet werden könne. Besonders wichtig für das Gelingen des Projekts sei zudem gewesen, dass ein gemeinsamer Wertekatalog für die Gedenkstätte entwickelt wurde.

Immer stehe bei der Vermittlungsarbeit die zentrale Frage im Raum, was Gedenken überhaupt sei. Das sei eine umfassende Frage. Für sie stehe aber fest: damit Gedenken gelingen könne, müsse es, wie der Präsident des Internationalen Mauthausenkomitees Guy Dockendorf stets betone, „eine Herzensangelegenheit sein“.

Den vielen Opfergruppen eine Stimme geben

„Die Vielfalt des Gedenkens“ wurde auch mit einem Kurzfilm des Mauthausen-Komitees thematisiert, der im Rahmen der Veranstaltung im Bundesversammlungssaal gezeigt wurde. Zu Wort kamen Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, die für verschiedener Opfergruppen sprachen, die Opfer des KZ-Systems Mauthausen und Gusen und der „Euthanasie“ im Schloss Hartheim wurden. Sie erörterten die Frage, wie der unterschiedlichen Opfergruppen adäquat gedacht werden kann und wie die Vermittlungsarbeit, insbesondere für junge Menschen, gelingen kann.

Angesichts der Tatsache, dass immer weniger unmittelbare Zeitzeug:innen unter uns sind, wird die Frage immer dringlicher, in welcher Form einer neuen Generation das Ausmaß der NS-Verbrechen überhaupt vermittelt werden kann. Vor diesem Hintergrund gewinnen Orte wie die KZ-Gedenkstätte Mauthausen und Gusen weiter an Bedeutung. Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der Erinnerung haben spezifische Objekte und Orte, aber auch Denkmäler, Rituale und künstlerischen Interventionen.

Schwarz-Friesel: Judenhass und Israelhass bilden untrennbare Symbiose

Mit dem von der Hamas verübten Massaker an Juden in Israel am 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden Reaktionen setzte sich die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel, Professorin an der Technischen Universität Berlin, in ihrem Vortrag auseinander. Sie konstatierte dabei eine zunehmende „Israelisierung“ des Antisemitismus. Der 7. Oktober habe die Quintessenz von Judenhass gezeigt, den unbedingten Willen, die jüdische Existenz auszulöschen, hob sie hervor. Mehr als 1.200 Menschen jeden Alters seien von den Hamas-Mördern – „mit Jubelgeschrei“ – gefoltert, verstümmelt und verbrannt worden.

Aber nicht nur das Massaker selbst, sondern auch das, was darauf folgte, ist für  Schwarz-Friesel „monströs“. Die Reaktionen hätten drastisch vor Augen geführt, „dass Teile der Menschheit tatsächlich nichts aus der Geschichte gelernt haben“. Statt eines internationalen Aufschreis habe es zum Teil „ohrenbetäubendes Schweigen“ gegeben. Feministinnen hätten zu den Massenvergewaltigungen ebenso geschwiegen wie „die progressiven Akademien und Kunstszenen“ zur grausamen Ermordung junger Menschen. „Verstand, Anstand und Mitgefühl wurden zugunsten ideologischer Verblendung, zugunsten eines anti-israelischen Narrativs aufgegeben“, so Schwarz-Friesel. Trotz aller Beteuerungen „des floskelhaften 'Nie wieder'“, seien die jüdischen Gemeinden einsam geblieben.

Kein Verständnis hat die Antisemitismus-Forscherin in diesem Zusammenhang für „die Ja-aber-Rhetorik“. Unter dem Schlagwort der Kontextualisierung würde das alte antisemitische Argument, die Juden seien selbst schuld an ihrem Unglück, reproduziert. Dabei warnt die Wissenschaft ihr zufolge schon seit langem vor einem israelbezogenen Antisemitismus. In diesem würden sich  linke, rechte und muslimische Antisemiten mit einem „mittig-gebildeten Feuilleton-Antisemitismus“ treffen, der als geistiger Brandstifter fungiere. Aufbauend auf alten Vorurteilen gegen Jüdinnen und Juden werde Israel als rassistisches Apartheidregime dargestellt und so nicht nur der jüdische Staat delegitimiert, sondern auch die Schoah relativiert.

Für Schwarz-Friesel ist es offensichtlich, dass israelbezogener Antisemitismus nicht im Nahostkonflikt begründet liegt. Denn der jüdische Staat werde gehasst, weil er existiere, nicht weil er etwas tue oder nicht tue, also unabhängig von Krisen, Kriegen und Siedlungen, meinte sie. Klassische Stereotype gegen Juden und Jüdinnen wie „Kindermörder, Landräuber und Völkerzerstörer“, würden zeitgemäß angepasst und auf Israel projiziert. Gleichzeitig würden unter dem Vorwand des Konflikts jüdische Menschen überall auf der Welt attackiert. Judenhass und Israelhass bilden „eine untrennbare Symbiose“, ist die Wissenschaftlerin überzeugt.

Göll: Gedenken muss 2024 „ein lautes sein“

Die Bedeutung des öffentlichen Gedenkens hob Bundesratspräsidentin Margit Göll hervor. Die Namen und Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus dürften niemals in Vergessenheit geraten und seien Mahnung und Verpflichtung zugleich, betonte sie. Es brauche eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und ein aktives Engagement für Werte wie Toleranz, Mitgefühl und Menschlichkeit. Mit Veranstaltungen wie dem heutigen Gedenktag zeige man Solidarität und setze ein starkes Zeichen gegen Gewalt und Rassismus. Aber auch stilles Gedenken hat Göll zufolge seinen Wert, da es individuelle Reflexion und persönliche Verarbeitung ermögliche.

Scharfe Kritik übte die Bundesratspräsidentin an Demonstrationen, in denen ein Palästina „frei von Juden“ gefordert wird, und an antisemitischen Aktionen an Universitäten. Gerade unter jenen, „von denen wir erwarten, die Zukunft unserer Gesellschaft zu gestalten“, würden sich viele „in argloser Naivität, ahnungsloser Dummheit und verabscheuungswürdigem Antisemitismus üben“, sagte sie. Das Gedenken des Jahres 2024 müsse nicht zuletzt aus diesem Grund „ein lautes sein“. (Schluss Gedenkveranstaltung) sox/gs

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung sowie eine Nachschau auf vergangene Veranstaltungen finden Sie im Webportal des Parlaments.


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