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TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Stürmer für Europa“, Florian Weißmann

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Das gemeinsame Europa ist eine strategische Notwendigkeit, gerade als Antwort auf die vielen Krisen. Doch die politische Konjunktur begünstigt Rechtspopulisten, die es rückabwickeln wollen.

Ein halbes Jahr vor der EU-Wahl schrillen bei überzeugten Europäern die Alarmglocken. In mehreren EU-Ländern sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, zuletzt bei der Parlamentswahl in den Niederlanden. Sie fordern die liberalen Werte heraus, auf denen Europa gebaut ist. Und sie wollen das gemeinsame Europa auf eine bessere Freihandelszone zurückstufen.

Österreich bildet keine Insel der Seligen, sondern einen Brennpunkt dieser Entwicklung. Laut Eurobarometer ist die EU-Skepsis hierzulande stärker ausgeprägt als irgendwo sonst in Europa. Die FPÖ, die diese Haltung politisch kanalisiert, peilt Erfolge bei der Europawahl und bei der Nationalratswahl an.

Ausgerechnet Österreich. Kaum ein EU-Mitglied hat stärker von der europäischen Integration profitiert als das kleine Land im Herzen des Kontinents. Doch in der innenpolitischen Auseinandersetzung dominiert oft eine Abwehrhaltung gegenüber Europa, für die keineswegs nur die FPÖ verantwortlich zeichnet. Ein Beispiel dafür ist die Nettozahlerdebatte, die die Kanzlerpartei ÖVP gern aus der Mottenkiste holt, wenn es ums EU-Budget geht. Als ob sich der Mehrwert des gemeinsamen Europas für unsere Wirtschaft, unsere Sicherheit und unsere internationalen Gestaltungsmöglichkeiten in einem Beitragssaldo ausdrücken ließe.

Nicht allein in Österreich klaffen die strategische Notwendigkeit und die öffentliche Wahrnehmung weit auseinander. In der EU leben weniger als sechs Prozent der Weltbevölkerung, Tendenz sinkend. Wenn Europa die zukünftige Weltordnung mitgestalten will, wenn es seine Interessen und sein Lebensmodell verteidigen will, muss es die Ressourcen effizienter bündeln als bisher. Ganz zu schweigen davon, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit – von Konflikten über soziale Ungleichheit und Migration bis zum Klimawandel – ohnehin nicht an nationalen Grenzen Halt machen.

Doch die abstrakten internationalen Zusammenhänge sind in der politischen Kommunikation schwer vermittelbar. Für die meisten krisengeplagten EU-Bürger geht es eher um konkrete Lösungen für ihren Alltag. Der vertraute nationale Bezugsrahmen ist ihnen näher als die komplexen Strukturen der EU. Das spielt Populisten jeder Farbe in die Hände, und viele Mitte-Politiker lassen sich auf ihr Spiel mit Verlustängsten ein, statt mit Leidenschaft neue Wege aufzuzeigen.

EU-Kommissar Johannes Hahn hat die europäische Politik kürzlich mit einer Fußballmannschaft verglichen, die nur noch aus Verteidigern besteht. Die Alarmglocken, die nun bei überzeugten Europäern schrillen, sollten dringend auch Stürmer aus der Kabine holen.

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