ORF-Zeitgeschichte-Doku „Alter Hass, neuer Wahn. Antisemitismus – Geschichte eines tödlichen Vorurteils“ am 8. November in ORF 2
Wien (OTS) – „Die Judenfratzen – hau ma’s gleich ins Feuer!“ Die Pogromnacht des 9. November 1938 machte klar, dass auch im Österreich des 20. Jahrhunderts Nachbarn zu mörderischen Menschenjägern werden konnten. Seit dem Mittelalter zieht sich eine Blutspur des Juden-Hasses durch die österreichische Geschichte. In der „Menschen & Mächte“-Neuproduktion „Alter Hass, neuer Wahn“ zum 85. Jahrestag der Novemberpogrome analysiert Robert Gokl Ursachen und Folgen dieses gewalttätigen Antisemitismus und dokumentiert am Mittwoch, dem 8. November 2023, um 22.30 Uhr in ORF 2, wie antisemitische Vorurteile und Juden-Hass nach 1945 weiterwirkten. Der Antisemitismus bleibt eine Gefahr für die Demokratie, auch 85 Jahre nach dem Novemberpogrom.
Danach erzählt Robert Gokls „Menschen & Mächte“-Film „Auf Wiedersehen Mama, auf Wiedersehen Papa“ (23.25 Uhr) die Geschichte der traumatischen Flucht von Kindertransport-Kindern, schildert die Probleme der Integration in der Fremde und die posttraumatischen Folgen bis heute.
Wien, Dr.-Karl-Lueger-Platz: Seit Jahren wird um das Denkmal eines Mannes gestritten, der in den letzten Jahren der Monarchie mit seinem Juden-Hass viele Wienerinnen und Wiener beeinflusste, darunter Adolf Hitler. In der Habsburgermonarchie lebte die jüdische Bevölkerung seit dem Ausgleich von 1867 gleichberechtigt und loyal unter Kaiser Franz Joseph. Dennoch verschmolz gerade in Wien der christliche Antisemitismus mit dem rassischen Antisemitismus von Männern wie Georg von Schönerer. „Mein Großvater Arthur Seyß-Inquart wurde in Wien zum Antisemiten“, meint Helmut Seyß-Inquart, Enkel des Mannes, der 1938 als NS-Reichsstatthalter in Österreich Mitverantwortung für die Pogrome nach dem „Anschluss“ hatte.
1925 in Wien: Otto Rothstock, 21 Jahre alt, NSDAP-Mitglied und Juden-Hasser, erschießt Hugo Bettauer, Journalist und Schriftsteller. Bettauer hat in seinem Roman „Stadt ohne Juden“ die antisemitischen Visionen Karl Luegers fiktiv weitergedacht, bis zur zwangsweisen Vertreibung aller Wiener Juden. In Bettauers Roman folgt auf die antisemitische Massenhysterie eine triste Ernüchterung:
Wirtschaftskrise, Provinzialisierung in Wissenschaft und Kultur, internationale Isolierung. Und schließlich die Rückrufung der Vertriebenen für ein fiktives Happyend.
12. Juni 1933 in Wien Meidling: Eine Paket-Bombe tötet den Juwelier Norbert Futterweit. Es ist einer von vielen antisemitischen Terroranschlägen der österreichischen NSDAP. Nur einer der Täter wird gefasst, alle anderen fliehen über die Grenze ins „Dritte Reich“. Fünf Jahre später kommen die Mörder im Triumphzug zurück nach Wien. Und die Witwe Futterweits muss mit ihrem Sohn Robert in die USA fliehen, um ihr Leben zu retten. Erst als der Wiener Schriftsteller Michael Ritter an einem Kriminalroman auf der Basis der historischen Ereignisse arbeitet, meldet sich 2023 der Enkel Futterweits aus den USA. Erstmals erzählt er vom Schicksal der überlebenden Familie im Exil.
Die vielen Pogrome, die in ganz Österreich auf den „Anschluss“ 1938 folgten, waren Ergebnis einer jahrhundertelangen Geschichte des Juden-Hasses. Am Höhepunkt, der Nacht der Novemberpogrome, zündeten Österreicher und Österreicherinnen in Graz, in Innsbruck, in Linz, in Wien und an vielen weiteren Orten mehr als 60 Synagogen an, jagten, entwürdigten, verprügelten Jüdinnen und Juden auf den Straßen, stürmten und plünderten Wohnungen und Geschäfte. Wer es nicht mehr schaffte, in den nächsten Monaten zumindest das Leben durch Flucht zu retten, wurde deportiert und ermordet – mehr als 60.000 Österreicherinnen und Österreicher. Helmut Seyß-Inquart: „Mein Großvater war in seinem Wirken schrecklich für das jüdische Volk. Er ist in Nürnberg mit den Konsequenzen konfrontiert worden und hat dabei nicht sehr viel Regung gezeigt.“
Seit 1945 waren „Nie mehr wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“ zentrale Grundsätze österreichischer Politik. In Teilen der Bevölkerung aber hielt sich ein „Antisemitismus ohne Juden“ bis in die Gegenwart, in der alter antisemitischer Wahn neue Ausformungen in der Hasskultur des Internets, in Social Media und Darknet findet. Die Antisemitismus-Studien des österreichischen Parlaments belegen, dass antisemitische Verschwörungsmythen oder Holocaust-Verharmlosung auch heute noch Zustimmung finden. Eva Zeglovits, Autorin der Studien:
„Das beste Mittel gegen die Wurzeln des Antisemitismus ist Bildung und Information.“
Menschen & Mächte: „Auf Wiedersehen Mama, auf Wiedersehen Papa“
Als sich am 10. Dezember 1938 am Wiener Westbahnhof die Lokomotive in Bewegung setzte, bedeutete jeder zurückgelegte Kilometer für die in den Waggons sitzenden jüdischen Kinder ein Stück mehr Sicherheit, ja Lebensrettung. Das Ziel dieser in der historischen Diktion „Kindertransport“ genannten Reise war England. Bis Jahresende 1938 fahren sechs Züge ab. Zwischen 10. Dezember 1938 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 rollen insgesamt 22 gegen Westen, Richtung Empire, aber auch in die Schweiz, nach Holland und Frankreich. Knapp 3.000 Mädchen und Burschen konnten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges Österreich verlassen und vor Verfolgung und Deportation gerettet werden, ebenso Kinder aus Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen. In Summe entkamen solcherart rund 10.000 Kinder und Jugendliche dem sicheren Tod. In Robert Gokls Dokumentation werden die unterschiedlichsten Schicksale und Folgen der Kindertransporte thematisiert. Von Glückstreffern nach der Ankunft im Exilland bis hin zu Anpassungsproblemen und existenziellem Scheitern. Eines verbindet jedoch die unterschiedlichsten Biografien:
Die ehemals als Abschiebung begriffene Abreise als Lebensrettung zu begreifen, gelingt vielen, die durch emotionale Ausnahmezustände zu gehen hatten, erst im Erwachsenenalter.
Details zur vom VGR geförderten ORF-Eigenproduktion „Alter Hass, neuer Wahn. Antisemitismus – Geschichte eines tödlichen Vorurteils“ sowie zum ORF-Programmschwerpunkt „85 Jahre Novemberpogrome“ sind unter presse.ORF.at abrufbar.
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