Schüler:innen begeben sich auf Spuren jüdischen Lebens in Wiener Innenstadt | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

Schüler:innen begeben sich auf Spuren jüdischen Lebens in Wiener Innenstadt

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In einem herrschaftlichen Haus in der Wiener Herrengasse 14 lebte der jüdische Anwalt Armin Siebenschein, bevor er nach Auschwitz deportiert wurde. Er war einer von 65.000 Wiener Jüdinnen und Juden, die in der Shoah ermordet wurden, und einer von acht Menschen, deren Geschichte heute im Zuge eines Workshops mit Jugendlichen erzählt wurde. Auf Einladung von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka begab sich eine Schulklasse des Wiener BRG 14 gemeinsam mit Racheli Kreisberg, der Enkelin von Simon Wiesenthal, in der Nachbarschaft des Parlaments auf die Spuren von Wiener Jüdinnen und Juden.

Racheli Kreisberg bei Workshop mit Schüler:innen in Wien

"Stellt euch vor, ihr steht hier am Fenster, blickt auf die Straße und seht, wie sich Nazis eurem Haus nähern, um euch abzuholen", sagt Racheli Kreisberg, als sie auf eines der großen Rundbogenfenster des Palais Ferstel in der Herrengasse 14 zeigt. "Wie würdet ihr euch fühlen?" "Sehr ängstlich", meint eine Schülerin. "Verletzt und entehrt", sagt eine andere. "Das Zuhause sollte ein Ort sein, an dem man sich sicher fühlt und nicht in Angst leben muss", ergänzt eine Klassenkollegin.

Racheli Kreisberg spricht mit den Schüler:innen des BRG 14 über die Lebensgeschichte von Armin Siebenschein. Kreisberg ist die Enkelin des Architekten und Publizisten Simon Wiesenthal, der es sich nach seiner Befreiung aus dem KZ Mauthausen zur Lebensaufgabe gemacht hatte, NS-Verbrecher:innen aufzuspüren und vor Gericht zu bringen. Sie ist anlässlich der Verleihung des Simon-Wiesenthal-Preises kommenden Montag in Wien, der für besonderes Engagement für Aufklärung über den Holocaust und gegen Antisemitismus vergeben wird. Er wurde 2020 zu Ehren Simon Wiesenthals ins Leben gerufen und wird jährlich im Parlament verliehen. Ebenfalls zu Ehren ihres Großvaters hat Kreisberg die "Simon Wiesenthal Genealogy Geolocation Initiative" (SWIGGI) und das "SWIGGI-Tool" entwickelt. Das Tool zeigt auf einer Website eine Landkarte mit den Adressen von Jüdinnen und Juden in mehreren Städten, so auch in Wien. Per Klick kann man in die Lebensgeschichten der einzelnen Personen eintauchen und teilweise Stammbäume bis heute verfolgen. Außerdem kann man eine virtuelle Kerze anzünden oder andere Handlungen des Gedenkens setzen und auf der Plattform mit der Community teilen. In Zukunft soll es das Tool auch als App geben.

"Hatte Armin Siebenschein eine Familie?", fragt eine Schülerin. "Ja", sagt Kreisberg und erklärt, dass diese Daten im SWIGGI-Tool abrufbar sind. Siebenscheins Schwester ist in die USA emigriert. Sein Neffe hat in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ein Gedenkblatt eingereicht, aus dem hervorgeht, dass Siebenschein 1942 in Auschwitz ermordet wurde.

Orten einen Sinn geben

Mit diesen Geschichten will Kreisberg die Jugendlichen anregen, eine Verbindung zu den Gebäuden und den Menschen herzustellen. Sie wolle den Orten einen Sinn geben durch die Menschen, die darin gelebt haben. Für den heutigen Workshop hat Kreisberg gemeinsam mit Stadttempel-Guide David Pinchasov eine Route durch die Wiener Innenstadt erstellt. An fünf Stationen reflektieren die Schüler:innen die Geschichten jener Jüdinnen und Juden, die dort gelebt haben. Gestartet hat die Tour am Heldenplatz, wo Adolf Hitler vor fast genau 85 Jahren am 15. März 1938 den Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich verkündet hat. Nach der Herrengasse geht es weiter zu einem Haus am Kohlmarkt 5.

Dort spricht Kreisberg mit den Jugendlichen über die Geschichte von Gustav und Elisabeth Fröhlich. Das Ehepaar wurde 1942 vom Kohlmarkt ins KZ Theresienstadt deportiert. Wie muss es wohl für die beiden gewesen sein, von der Wiener Innenstadt in ein Konzentrationslager gebracht zu werden? Es könnte geholfen haben, dass sie diese Erfahrung gemeinsam durchgemacht haben, mutmaßt eine Schülerin. Als "hoffnungslos" bezeichnet ein Mitschüler die Situation. Vom Kohlmarkt nach Theresienstadt zu kommen, sei für sie, wie eine Schlucht hinabzufallen, sagt Racheli Kreisberg.

Jugendliche reflektieren Lebensgeschichten

Vor der nächsten Station, der Habsburgergasse 4, fordert sie die Klasse auf, im SWIGGI-Tool nachzusehen, wen sie dort "treffen" würden. Es sind Paul und Rachela Adler, wie die Schüler:innen schnell herausfinden. Ein Blick auf deren Stammbäume zeigt, dass Rachelas Sohn 1938 emigrieren konnte. Ihr Mann und sie hingegen konnten nicht flüchten. Paul wurde 1939 deportiert, Rachela 1941. Die Jugendlichen diskutieren darüber, ob sie das Land verlassen würden, wenn ihre Eltern nicht mitkommen dürften. Manche würden gehen, weil sie wissen, dass ihre Eltern das so wollten. Andere würden bei der Familie bleiben. "Ist ein Leben mehr wert als das andere?", stellt eine Schülerin in den Raum. "Ich würde bleiben, aber vielleicht meine Schwester wegschicken", sagt eine andere. Egal, wie man sich entscheide, man wäre wohl immer von Schuldgefühlen gequält, meint eine weitere Schülerin. Es sei ein Dilemma, sind sich die Jugendlichen einig. Auch Kreisberg betont: "Es gibt hier kein Richtig und kein Falsch."

Dass jüdisches Leben in Wien nicht nur mit dem Holocaust zu tun hat, will Kreisberg den Schüler:innen bei der nächsten Station zeigen. In der Parisergasse 4 hat Rosa Geiringer gelebt. Sie ist noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Juni 1938 in Wien verstorben.

Am Judenplatz endet die Route. Die Gruppe spricht dort über die Lebensgeschichten von Wilhelm und Anna Breuer sowie die Geschichte des Platzes und Mahnmals der österreichischen jüdischen Opfer der Shoah. Vor dem Mahnmal, das auf die Initiative ihres Großvaters Simon Wiesenthal zurückgeht, fasst Kreisberg zusammen, worum es ihr bei Touren wie dieser geht: Sie wolle Geschichten teilen, die die Jugendlichen weitertragen sollen. (Schluss) kar

HINWEIS: Fotos von diesem Workshop finden Sie im Webportal des Parlaments.


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