Erdbeben in der Türkei
Aktuell steigt die Zahl der in der Türkei und Syrien zu Tode gekommenen Erdbebenopfer auf über 40.000. Gemäß des United Nations relief chief Martin Griffiths werde sich diese Zahl wohl aber noch verdoppeln (1). Diese immens hohe Zahl an Todesfällen (abgesehen von all jenen, die ihr Zuhause verloren haben) liegt aber nicht ausschließlich in der rohen Gewalt einer Naturkatstrophe begründet. Vielmehr bedarf es einer umfassenden Analyse des Vorgehens der Erdogan-Regierung, um die politische Dimension dieser Naturkatastrophe zu verstehen. Denn es geht hier nicht nur um Korruption, Missmanagement und bewusstes Wegsehen der Behörden, wie bereits vielfach von internationalen Journalist:innen berichtet wurde. Es geht auch um das gezielte Im-Stich-Lassen bestimmter (kurdischer und alevitischer) Bevölkerungsteile im Katastrophenmanagement sowie um die teils gezielte Behinderung von lokaler Katastrophenhilfe in ebendiesen Regionen. All dies geht einher mit der Einschränkung der Pressefreiheit und massiver Behinderung der politischen Opposition.
Profitinteressen statt Erdbebensicherheit
Die Warnungen nach dem letzten großen Beben von 1999 (17.000 Tote) von Seiten der Geowissenschaft und der Opposition waren über die Jahre hinweg eindringlich (2). Diese Katastrophe brannte sich traumatisch in das kollektive Gedächtnis der türkischen Bevölkerung ein. Wenig erstaunlich folgt nun die harsche Kritik an der seit mittlerweile zwanzig Jahren regierenden AKP. Denn eigentlich sollte eine damals eingeführte Erdbebensteuer mit einem bis dato Gesamtvolumen von 37 Millarden US Dollar (!) genutzt werden, um die Türkei erdbebensicher zu machen. Diese Mittel wurden aber zweckentfremdet und für andere Staatsausgaben aufgewendet (3). In einem nun wieder aufgetauchten Video von 2011 behauptet Ex-Finanzminister Mehmet Şimşek, das Geld sei zweckentfremdet und teilweise für das Rückzahlen von Staatsschulden verwendet worden (4).
Gleichzeitig versickerten enorme Summen im schwer korrupten Umfeld der AKP, das seit jeher in enger Verbindung mit dem Bausektor steht (5). So wurden viele Gebäude entgegen der eigentlich strengen Bauvorschriften errichtet, die deshalb nun dem Beben nicht standhielten – darunter auch die von AKP-nahen Bauunternehmen in Billigbauweise angefertigten Toki-Blöcke (benannt nach der nationalen Wohnungsbehörde). In diesen wurden zahlreich kurdische Geflüchtete untergebracht, „[n]achdem das türkische Militär 2016 während der Proteste gegen die Diskriminierung und Kriminalisierung der demokratischen Partei HDP die von ihr regierten Städte zum Teil in Schutt und Asche gelegt hatte“ (6).
Es scheint im AKP-System nämlich gängige Praxis zu sein, Wohnblöcke für bestimmte Bevölkerungsteile in minderwertiger Qualität und entgegen der Bauvorschriften zu errichten, nur um sie später zu amnestieren, also zu legalisieren (7). Profitinteressen wiegen hier also höher als die menschliche Unversehrtheit, etwa im Fall eines Erdbeben. Der langjährige österreichische Handelsdelegierte Georg Karabaczek bestätigt im Ö1 Interview, dass erst kürzlich 75.000 Gebäude in den betroffenen Regionen durch die nationalen Baubehörden amnestiert wurden(8). Viele dieser Gebäude wurden nun zu den Gräbern der unwissenden Opfer, die in ihnen wohnten.
Krisenmanagement mit politischem Kalkül
Doch die Opposition, die Zivilgesellschaft und Vertreter:innen aus der Wissenschaft kritisieren hier nicht nur Versäumnisse in der Vergangenheit, sondern leiden nun zusätzlich unter einem fatalen Krisenmanagement. Neben Faktoren wie der mangelnden Koordinierung der unterschiedlichen Einsatzkräfte und der generellen Unvorbereitheit der Behörden zeigt sich zudem, wie das AKP-MHP-Regime mit politischem Kalkül bestimmte Städte und Regionen bei Bergungsarbeiten vernachlässigt und versucht, sämtliche Kritik daran zu unterbinden.
In Hatay, Adıyaman, Elbistan sowie Pazarcık, fehlte selbst 35 Stunden nach dem Erdbeben jegliche Spur von nationalen Hilfskräften. Es sind allesamt Orte mit kurdisch-alevitischen und arabischen Bevölkerungsmehrheiten, in denen der türkische Staat üblicherweise durch Militärpräsenz und Checkpoints im Alltag überall sichtbar ist (9). Stattdessen wird die zivile und oppositionelle Katastrophenhilfe stark eingeschränkt und in vielen Fällen auch kriminalisiert. Der Minister für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel, Murat Kurum, besteht jedoch auf den Staat als alleinige Koordinierungsstelle, womit eine massive Behinderung der lokalen (u.A. kurdischen) Hilfskräfte aus der Zivilgeselleschaft und der politischen Opposition einhergehen (10). Dies führte im Folgenden dazu, dass Hilfsgüter durch das nationale Krisenmanagement AFAD konfisziert (11), Bergungsarbeiten verlangsamt und von der nationalen Beratungsstelle Yimer Übersetzungshilfen in sieben Sprachen, nicht aber in kurdischer Sprache angeboten wurden (12). Es sind also gezielte politische Handlungen, um bestimmte Erdbebenopfer sich selbst zu überlassen, nämlich vor allem jene in kurdischen Gebieten. Nuray Özdoğan, Ko-Sprecherin der oppositionellen kurdischen Partei HDP, bekräftigt Berichte von schweren Misshandlungen und Gewalttaten an freiwilligen, teils oppositionellen Helfer:innen und von Menschen, die durch das Erdbeben zur Flucht gezwungenen wurden (13).
Unter dem Vorwand des ausgerufenen Ausnahmezustands verhindern nationale Behörden hingegen jegliche Kritik und unterbinden gezielt die Arbeit oppositioneller Parteien. Angesichts der anstehenden Wahlen geht es nun ums politische Überleben Erdogans und seiner schwer angeschlagenen AKP-MHP-Regierung. Die Regierung blockierte die Online-Plattform Twitter für 12 Stunden nach Beginn der Erdbebenkatastrophe und schränkte in weiterer Folge die Nutzung ein. Dies ist neben der Zensur der öffenlichen Meinung auch deshalb brisant, weil Twitter von vielen zivilen Einrichtungen genutzt wurde, um die lokale Katastrophenhilfe angesichts fehlender Alternativen zu koordinieren (14).
Darüber hinaus fokussierte sich der türkische Staat gezielt auf die Einschränkung und Behinderung kritischer Berichterstattung. Journalisitische Tätigkeiten wurden unter dem Vorwand, man wolle die 'Verbreitung von Desinformation' verhindern und aufgrund angeblich fehlender Genehmigungen für Bildaufnahmen kriminalisiert und endeten häufig mit Festnahmen und darauf folgende Ermittlungsverfahren (15). In einer der ersten Ansprachen Erdogans nach dem Beben mahnte er zur Vorsicht, dass jegliche veröffentlicheten, angeblichen Fake-News, "notiert" und in weiter Folge "alle Verräter bestraft" würden (16). Die türkische Bevölkerung soll das Ausmaß der Zerstörung und das unermessliche Leiden von den Betroffenen nicht sehen, die selbst mehr als eine Woche nach dem Beben auf Versorgung und Unterbringung warten müssen. Sie soll nicht sehen, wie jene Bevölkerungsgruppen, die in regierungstreuen Medien üblicherweise salopp als Terroristen bezeichnet werden, alleine gelassen werden und sich lediglich durch selbstorganisierte ziviligesellsachftliche und oppositionelle Strukturen notdürftig versorgen können.
Stattdessen entschied sich die türkische Regierung, bis auf Weiteres keine aktuellen Opferzahlen bekannt zu geben, hat jedoch selbst im Ausnahmezustand die Kaltblütigkeit, weiterhin militärische Angriffe mit Artillerie auf Tel Rifat, eine stark vom Erdbeben betroffene kurdische Stadt in Nordsyrien, durchzuführen (17). Ebenso halten Angriffe gegen kurdische Gebiete auf irakischem Staatsgebiet an (18) (19).
Als Defend Kurdistan-Bündnis möchten wir daher zur Unterstützung jener Strukturen und Bevölkerungsteile aufrufen, die nun gezielt vernachlässigt werden. Wenn Sie spenden möchten, machen Sie es am besten hier:
Roja Sor a KURDISTANÊ – Österreich
Bank: Bawak P.S.K.
IBAN: AT75 1400 0030 1031 4274
BIC: BAWAATWW
Verwendungszweck: ERDBEBEN
Zudem möchten wir auf unseren offenen Brief mit zahlreichen Unterstützer:innen des öffentlichen Lebens und unsere Unterschriftenkampagne verweisen, um den türkischen Angriffskrieg auf kurdische Gebiete zu beenden. Am 7. März werden wir im Nationalrat unseren Offenen Brief samt Unterschriften übergeben und fordern eine Beendigung der Kollaboration Österreichs mit einer demokratiefeindlichen, kriegstreibenden Türkei.
Offener Brief: https://www.gemeinsamfuerkurdistan.org
Unterzeichnen Sie selbst! Unterschriftenkampagne: https://www.ots.at/redirect/mein.aufstehn6
QUELLEN:
(1) politico.eu
(2) telepolis.de
(3) fr.de
(4) taz.de
(5) fr.de
(6) telepolis.de
(7) ft.com
(8) oe1.orf.at
(9) zeit.de
(10) anfdeutsch.com
(11) anfdeutsch.com
(12) zeit.de
(13) anfdeutsch.com
(14) thenationalnews.com
(15) thebalkaninsight.com
(16) arte.tv
(17) anfdeutsch.com
(18) anfdeutsch.com
(19) anfdeutsch.com
OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at
(C) Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender. Initiative Defend Kurdistan