TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Abrechnung mit Trump“, von Floo Weißmann
Innsbruck (OTS) – Es ist grundsätzlich richtig, den scheidenden Präsidenten politisch zur Verantwortung zu ziehen. Aber der Parteienstreit darüber kann den Antritt der neuen Regierung überschatten.
Eine Woche nach der Entscheidung über die Senatsmehrheit und dem Sturm auf das Kapitol erleben die USA eine neue politische Dynamik. Das republikanische Establishment hat mehr oder weniger offen mit Präsident Donald Trump gebrochen; vormals Trump-freundliche Medien, Wirtschaftsverbände und Internetgiganten gehen auf Abstand. Zum Ende seiner turbulenten Amtszeit hat Trump mit der Kampagne gegen das Wahlergebnis doch noch den Bogen überspannt. Das überschattet seine Verdienste in den Augen vieler Konservativer und verdüstert seine Aussicht, in der US-Politik auch in Zukunft eine Rolle zu spielen. Die Demokraten wollen nun die Gunst der Stunde nutzen und basteln gleich am nächsten Amtsenthebungsverfahren gegen den nunmehr isolierten Präsidenten. Das ist zum Teil sehr durchschaubare Parteitaktik, zum Teil ein nobles Unterfangen – und überdies politisch hoch riskant.
Angesichts der knappen Zeit geht es nicht um die Entfernung Trumps aus dem Amt, sondern um eine politische Abrechnung. Kurz vor ihrer Machtübernahme instrumentalisieren die Demokraten noch einmal eine Kampagne gegen den verhassten Präsidenten, um die eigenen Reihen zu schließen und ihre Anhänger bei Laune zu halten. Zugleich treiben sie die führungslosen Republikaner vor sich her und befeuern deren Richtungsstreit.
Unabhängig von der Parteitaktik ist es aber grundsätzlich richtig, Trump für seinen Angriff auf die Demokratie zur Rechenschaft zu ziehen und ihn für öffentliche Ämter zu sperren – notfalls auch erst im Frühjahr. Das wäre eine Warnung an alle im In- und Ausland, die versucht sein könnten, sein Drehbuch zu kopieren. Umgekehrt: Was für ein Signal wäre es, wenn Trump mit dem Sturm auf das Kapitol davonkommt? Mag sein, dass auch die Justiz noch aktiv wird, aber für die politische Antwort ist der Kongress zuständig.
Atmosphärisch allerdings untergräbt das Verfahren das Versprechen des nächsten Präsidenten Joe Biden, die Hand zur Versöhnung auszustrecken; anhaltender Zwist um den Amtsvorgänger lenkt zudem von seiner eigenen Agenda ab. Und die Demokraten riskieren, außerhalb der eigenen Kernwählerschaft als rachsüchtig wahrgenommen zu werden. Dazu kommt die Gefahr, dass der militante Kern von Trumps Anhängern Lunte gerochen hat und die politische Gewalt fortsetzt. Wer erwartet oder gehofft hatte, dass die USA mit dem Antritt der neuen Regierung politisch zur Ruhe kommen, muss sich auf eine Enttäuschung einstellen.
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