Stellungnahme der ÖGKJP zur Coronakrise und die daraus resultierenden Konsequenzen für Kinder und Jugendliche
Wien (OTS) – Einleitung
Nachdem es durch das entschlossene Vorgehen der Bundesregierung und das große Engagement der Bevölkerung Österreichs gelungen ist, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen, werden nun Konzepte überlegt, wie das weitere Procedere einer Rückkehr in den Alltag zu gestalten sein wird. Dies betrifft selbstverständlich auch die Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen und unter ihnen auch besonders jene, die an einer psychischen Erkrankung leiden.
Kindergarten- und Schulbereich
Es ergeben sich angesichts der mangelnden Datenlage selbstverständlich Unsicherheiten betreffend der epidemiologischen Bedeutung der Öffnung von Schulen und Kindergärten für eine SARS-CoV-2-Verbreitung. Die vorhandene wissenschaftliche Literatur zu SARS und Influenza lässt sich dahingehend interpretieren, dass die Auswirkungen auf die Sterblichkeit der Gesamtbevölkerung eher gering sein dürften (Viner et al., 2020). Abgesehen vom Lernstoff, den es aufzuarbeiten gelten wird, geht es aber vor allem auch darum, dass durch die gegenwärtige Homeschooling-Situation gesellschaftliche Unterschiede zwischen bildungsfernen und bildungsnahen Haushalten verschärft werden dürften. Es scheinen bereits jetzt viele Kinder nicht mehr erreichbar für die schulischen (Online-)Lernangebote zu sein oder es fehlt die notwendige Hardware um diese zu nutzen. Gerade diese Altersgruppe benötigt soziale Kontakte und Betreuung, ist es doch die Entwicklungsaufgabe, sich aus dem Elternhaus heraus und in die Peergruppe hinein zu orientieren, etwas das derzeit unterbunden wird. Auch die sozialen Medien können hier als Ersatz nur unzureichend wirksam werden.
Kollateralschäden der Pandemie
Die psychischen Kollateralschäden von Quarantänemaßnahmen wurden in der Vergangenheit vielfach untersucht (Brooks et al., 2020). Hauptgefahren sind Stress/belastungsassoziierte Störungsbilder oder Verschlechterungen bestehender Erkrankungen. Es wird auch je nach Zugehörigkeit zu bestimmten Populationen (Kinder als Angehörige von Menschen im SARS-CoV-2-Dienst, von Verstorbenen oder SARS-CoV-2-Erkrankten oder von Arbeitslosigkeit und Armut betroffenen Personen) unterschiedliche Reaktionen und Folgeerscheinungen geben.
Obwohl viele Hilfsangebote online oder über Telefon geschaffen wurden, besteht vor allem die Gefahr, Kinder und Jugendliche in schweren psychosozialen Krisen nicht mehr zu erreichen. Gerade jener Gruppe, die vermutlich die SARS-CoV-2-Infektion physisch am besten überstehen würde, wird ein sehr hoher „Solidarbeitrag“ abverlangt, in dem es keine Möglichkeiten zum sozialen Austausch mit Gleichaltrigen gibt (Schule, Spielplätze, Sportplätze, etc.). Weiters bestehen durch eine Reduktion therapeutischer Möglichkeiten sowie eine reduzierte ärztliche Versorgung dramatische Einbußen in der ärztlichen und therapeutischen Regelversorgung.
Die meisten aktuellen Fachpublikationen (vgl. Fegert et al., 2020) und auch Organisationen wie die UNICEF gehen davon aus, dass die Zahlen von Kindesmisshandlung, Missbrauch und häuslicher Gewalt in den Wochen der Ausgangsbeschränkung steigen werden, mit hinreichend bekannten lebenslangen Konsequenzen für die psychische und körperliche Gesundheit. Folgt man vorhandenen Daten, so ist in der Mischung aus sozialer Isolation und wirtschaftlicher Rezession eine Zunahme an Suiziden als schwerwiegende Konsequenz anzunehmen, die wir in den kommenden Monaten zu bewältigen haben werden.
Stellungnahme der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP)
Aus Sicht der ÖGKJP braucht es daher einen geordneten und koordinierten Fahrplan in die kindliche und jugendliche Normalität, oder zumindest einen deutlichen Schritt in diese Richtung. Dieser Fahrplan sollte regeln, wie und ab wann Spielflächen geöffnet, Kontakte in kleinen Gruppen ermöglicht oder ein Training im Sportverein zugelassen werden. Daneben braucht es einen kontrollierten aber forcierten Schul- und Kindergartenöffnungsprozess, der jetzt ebenso rasch und offen kommuniziert wird, wie das Öffnen von Einkaufsmöglichkeiten. Diese Öffnung muss neben den Kindergartenkindern gerade auch die Volksschulkinder, die weniger Homeschooling-Möglichkeiten haben, umfassen. In ganz besonderem Ausmaß müssen auch die Interessen der NMS-Schülerinnen und -Schüler Beachtung finden, vor allem auch jene, die vor einem Schulabschluss stehen.
Um die zu erwartenden psychiatrischen Folgen gut abzufangen und auch die Kinderrechte entsprechend zu berücksichtigen, braucht es einen kontinuierlichen und beschleunigten weiteren Ausbau kinder- und jugendpsychiatrischer, psychotherapeutischer und funktionell-therapeutischer Angebote. Der weiterhin zögerlich stattfindende Ausbau, um die Ziele im Strukturplan Gesundheit Österreich zu erreichen, wird dazu führen, dass die verstärkte Inanspruchnahme in Folge der Bewältigung des Krisengeschehens auf ein System treffen wird, das schon vor der Krise am Rand der Kapazitäten gearbeitet hat.
Univ.-Prof. Dr. Paul Plener, MHBA
Univ.-Prof. Dr. Leonhard Thun-Hohenstein, sowie
der Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP)
Literatur:
Brooks SK, Webster RK, Smith LE, Woodland L, Wessely S, Greeenberg N, Rubin GJ (2020) The psychological impact of quarantine and how to reduce it: rapid review of the evidence. Lancet 395: 912-920
Fegert JM, Berthold O, Clemens V, Kölch M (2020) COVID-19-Pandemie: Kinderschutz ist systemrelevant. Dtsch Arztebl 117: A703/ B-596
Viner RM, Russell SJ, Croker H, Packer J, Ward J, Stansfield C, Mytton O, Bonell C, Booy R (2020) School closure and management practices during coronavirus outbreaks including COVID-19: a rapid systematic review. Lancet Chidl Adoles Health
https://doi.or/10.1016/S2352-4642(20)30095-X
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