Über 400 innovative Arzneimittel mit neuem Wirkstoff in den letzten 10 Jahren
Innovative Therapien oder Arzneimittel zur Prävention wie die erstmals zugelassenen RSV-Impfungen stellen oftmals einen Durchbruch dar und eröffnen Ärzt:innen sowie Patient:innen neue Behandlungsoptionen. Nicht selten sind daran große Hoffnungen geknüpft, die durch intensive Forschung und Entwicklung möglich werden. Über 42 Milliarden Euro investiert die europäische Pharmaindustrie pro Jahr in diese Forschung. Das trägt dazu bei, dass 2023 insgesamt 36 Arzneimittel mit einem komplett neuen Wirkstoff zugelassen werden konnten. Über die letzten zehn Jahre betrachtet, kamen über 400 innovative Pharmazeutika in Österreich auf den Markt. Ein Bericht der Medizinmarktaufsicht der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) und des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI).
Mit einer Forschungs- und Entwicklungsquote von 12,4 Prozent vom Umsatz ist die europäische Pharmaindustrie die mit Abstand forschungsintensivste Branche aller Technologiesektoren – deutlich vor der IT, der Auto- oder der Luftfahrtindustrie. Ergebnis der fokussierten Arbeit sind über 400 Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, die in den letzten zehn Jahren zugelassen werden konnten. Im letzten Jahr kamen 36 innovative Medikamente auf den Markt.
„Jede einzelne dieser neuen zugelassenen Therapien wurde von den europäischen Arzneimittelbehörden gemeinsam sorgfältig auf Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit überprüft“, erklärt DI Dr. Günter Waxenecker, Leiter des Geschäftsfelds Medizinmarktaufsicht in der AGES. „Die Zahl der Innovationen liegt – nach dem postpandemischen ‚Ausreißer-Jahr‘ 2022 – wieder im langjährigen Schnitt. Sie zeigt aber auch, dass Arzneimittelforschung kein ‚Selbstläufer‘ ist. Zahlreiche Projekte scheitern im Lauf des langen Entwicklungs- und Forschungsprozesses bis zur Zulassung, manche sogar erst im späten Stadium einer klinischen Studie. Umso bedeutsamer sind daher all jene Therapien, die den langwierigen – aber im Sinne der Sicherheit der Patienten notwendigen – Prozess meistern, die Zulassung schaffen und als Innovationen den Patient:innen zur Verfügung stehen.“
„Diese Therapien stellen oftmals einen Durchbruch für Ärzt:innen und Patient:innen dar und eröffnen neue Behandlungswege“, betont auch Dipl.-Kfr. Julia Guizani, MBA, Präsidentin des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI). „Der Wert für die Betroffenen und in größerem Zusammenhang auch für die Volksgesundheit ist nicht zu unterschätzen. Wenn auf lange Sicht etwa 20 Prozent weniger Todesfälle bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen erzielt werden können, wie nachweislich zwischen 2000 und 2022 belegbar ist, dann ist das ein substanzieller Benefit für die einzelnen Menschen und für die Gesellschaft.“
Starker Fokus auf Onkologie
Von den 36 zugelassenen Therapien mit einem neuen Wirkstoff im Jahr 2023 entfällt nach wie vor der größte Teil, ein Drittel, auf Krebsmedikamente. 17 Prozent sind immunmodulierende Arzneimittel, die gezielt das Immunsystem dämpfen, um Autoimmunerkrankungen wie Schuppenflechte oder Multiple Sklerose zu behandeln. 14 Prozent stellen Therapien für seltene Erkrankungen bei Kindern, 8 Prozent sind Impfstoffe. Und zusätzlich kam eine Vielzahl an Innovationen für verschiedene andere Therapiegebiete wie zum Beispiel Migräne, chronischen Husten oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf den Markt.
RSV-Impfstoffe und andere Beispiele
Als herausragende Beispiele nennt AGES Medizinmarktaufsicht-Geschäftsfeldleiter Waxenecker:
- RSV-Impfstoffe
Das Respiratory Syncytial Virus (RSV) ist eine mittlerweile bekannte Ursache für akute Infektionen der unteren Atemwege, insbesondere bei kleinen Kindern und älteren Erwachsenen. Erstmals wurden nun zwei Impfstoffe zur Prävention für Erwachsene ab 60 Jahren zugelassen. Aufgrund der Gefährlichkeit und hohen Anzahl an Todesfällen ist die Impfung gegen RSV im österreichischen Impfplan für Erwachsene ab 60 Jahren empfohlen. Der erste der beiden Impfstoffe ist auch für Schwangere verfügbar und bietet somit für Risiko-Säuglinge – mittels Impfung der Mutter – eine passive Präventionsmöglichkeit („Nestschutz“). - BITE-bispezifischer Antikörper/T-Cell-Engager
Vier dieser neuen Wirkstoffe wurden 2023 zugelassen. Sie binden als bispezifischer Antikörper mit zwei verschiedenen Bindungsstellen einerseits an die krankmachenden Zellen, andererseits an jene Immunzellen, die die Krankheit bekämpfen. Diese Verbindung aktiviert damit sehr effizient das körpereigene Immunsystem gegen die jeweilige Krankheit. - Mavacamten
In der Kardiologie gibt es erstmals einen zugelassenen Wirkstoff aus der Gruppe der sog. Myosin-Inhibitoren, der eine spezifische medikamentöse Behandlung einer verbreiteten Form der schweren Herzschwäche, der hypertrophen Kardiomyopathie, ermöglicht. - Etranacogen dezaparvovec
Für Bluter:innen gibt es seit 2023 (nach der ersten Gentherapie zur Behandlung schwerer Hämophilie A im Jahr 2022) nun auch eine Gentherapie für die zweithäufigste Form der Bluterkrankheit, der Hämophilie B. Somit sind erstmals beide der häufigsten Hämophilie-Erkrankungen gen-therapeutisch abgedeckt. - Kontinuierliche Fortschritte für mehr Anwendungsfreundlichkeit
In der Onkologie gibt es erstmals einen neuen Wirkstoff (Cedazuridin) der es ermöglicht, dass statt der bisher notwendigen und belastenden intravenösen Decitabin-Chemotherapie-Anwendung auch deren orale Anwendung für Krebspatient:innen möglich wird.
In der Infektiologie gibt es erstmals auch einen nur mehr wöchentlich (statt wie bisher täglich) zu verabreichenden, wirksamen Vertreter der Substanzklasse der Echinocandine, der gegen die invasive Candidose, eine schwere, lebensbedrohliche Pilz-Infektion in der Blutbahn, wirkt. Neben dem zeitlichen Aufwand, der mit Zubereitung, Konstituierung und Verabreichung von Infusionen in Spitälern einhergeht und dadurch nun deutlich vereinfacht und reduziert wird, profitieren insbesondere die Patient:innen durch die weniger verabreichungsbelastende Therapie.
Arzneimittel-Innovationen für Ärzt:innen als Prävention unverzichtbar
Aus ärztlicher Sicht unterstreicht Prim. Doz. Dr. Arschang Valipour, Direktor des Karl-Landsteiner-Instituts für Lungenforschung, Klinik Floridsdorf, Wien, die Relevanz der neuen RSV-Impfstoffe als Innovationen: „Spätestens seit der COVID-19 Pandemie wissen wir um die klinischen Auswirkungen von hochinfektiösen Atemwegserkrankungen Bescheid. Eine RSV-Infektion bei erwachsenen Risikogruppen ist mindestens genauso bedrohlich wie Influenza oder SARS-CoV-2, mit gesundheitsökonomischen Folgen, erhöhter Morbidität und Mortalität. Umso bedeutsamer, dass nun eine RSV-Impfung für den klinischen Einsatz im Sinne einer klinisch wirksamen Prävention zur Verfügung steht.“
Dem schließt sich auch Prim.a Univ.-Prof.in Dr.in Angela Zacharasiewicz, MBA, Vorständin der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde, Klinik Ottakring, an: „Als Kinderärzt:innen kennen wir RSV schon lange. Dank besserer Diagnostik werden die – mitunter von schweren Verläufen und starken Atemproblemen gekennzeichneten – Krankheitsfälle bei Kleinkindern jetzt nur besser zugeordnet. Eine Prävention, um vor allem Säuglinge vor zum Teil schweren Krankheitsverläufen und dem Risiko einer RSV-bedingten Hospitalisierung zu schützen, ist deshalb von großer Bedeutung.“
Fast die Hälfte der Entwicklungskosten entfallen auf klinische Studien
„All diese Fortschritte macht das hohe und risikoreiche Investment der forschenden Pharmaindustrie möglich“, betont Guizani. „Auch die in Österreich ansässigen forschenden Unternehmen leisten dazu einen wesentlichen Beitrag, insbesondere in der klinischen Prüfung und in Kooperation mit Spitälern und wissenschaftlichen Instituten.“
„Rund die Hälfte der Kosten zur Entwicklung eines Arzneimittels entfallen auf klinische Studien (Phase I bis Phase III). Österreich verfügt über medizinisch hervorragende universitäre Kliniken mit modernster Infrastruktur und ist im internationalen Vergleich gut vertreten – jedenfalls noch“, so Guizani. „Wir müssen aber tunlichst darauf achten, die Reputation und die Rahmenbedingungen für klinische Forschung zu erhalten, damit wir als Studienstandort attraktiv bleiben.“
Denn die Zahl der 2023 gestarteten klinischen Studien lag zwar mit 295 Studien leicht über dem Niveau der Vorjahre. Expert:innen befürchten aber seit einiger Zeit, dass Österreich seinen Ruf als flexibles, rasch agierendes Land verlieren könnte.
„Alle Verantwortlichen im Gesundheitssystem, von der Politik über die Behörden und Universitäten bis hin zu den Unternehmen, sollten deshalb alles daransetzen, die Rahmenbedingungen für klinische Forschung zu verbessern. Klinische Studien haben einen hohen Wert für das Gesundheitssystem in Österreich. Sie halten und ziehen Top-Ärzt:innen an. Sie ermöglichen Patient:innen den Zugang zu neuesten Entwicklungen und gewährleisten engmaschige Betreuung. Sie bringen dem System Einsparungen, da die Medikamente von den forschenden Unternehmen getragen werden. Und sie erzielen nachweislich hohe Wertschöpfung“, sagt Guizani. Eine Untersuchung des IPF ergab etwa, dass im Zuge klinischer Forschung medizinische Behandlung im Wert von 100 Mio. Euro dem Gesundheitssystem erspart wurde.
AGES im europäischen Zulassungsprozess einer der Top-Player
Die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) genießt auf europäischer Ebene hohe Reputation: So war die AGES MEA 2023 im zentralen Zulassungsverfahren 14-mal als Rapporteur, neunmal als Co-Rapporteur und viermal in multinationalen Gutachter-Teams beteiligt. Das ist deutlich öfter als im Jahr davor, wo die AGES MEA in neun Verfahren als Rapporteur und in acht Verfahren als Co-Rapporteur aktiv war. „Österreich rangiert damit im europäischen Spitzenfeld – und das nicht nur bei den Zulassungsverfahren, sondern auch bei der wissenschaftlichen Beratung“, sagt Waxenecker. Denn auch im so genannten Scientific Advice-Verfahren der EMA wird die Expertise der heimischen Behörde geschätzt. Immerhin 127 dieser wissenschaftlichen Beratungsverfahren wurden im Jahr 2023 von Österreich koordiniert.
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