TIROLER TAGESZEITUNG "Leitartikel" vom 24. April 2023 von Michael Sprenger "Die neue Unübersichtlichkeit" | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 24. April 2023 von Michael Sprenger „Die neue Unübersichtlichkeit“

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Die Salzburger Landtagswahl war an Überraschungen wahrlich nicht arm. Wohin schielt die schwer gebeutelte ÖVP? Im Bund steigt die Nervosität. Die Kommunisten liefern eine Sensation. Und die Republik franst an den Rändern aus.

Wo will man anfangen? Bei der ÖVP, die als Landeshauptmann-Partei wie schon zuvor in Tirol und Niederösterreich (und wie die SPÖ in Kärnten) eine herbe Niederlage einstecken musste – aber den ersten Platz verteidigen konnte? Bei der rechten FPÖ, die trotz Ibiza-Video, Korruptionsfällen und all dem von einem Wahlerfolg zum nächsten steuert? Vielleicht bei den NEOS, die als bisherige Regierungspartei aus dem Landtag geflogen sind, oder doch bei der KPÖ, die mit über elf Prozent in den Landtag eingezogen ist und in der Stadt Salzburg sogar über 20 Prozent erreicht hat?
Man muss innehalten, um sich nach so einem Ergebnis an einer politischen Diagnose zu versuchen. Die Republik franst jedenfalls an den Rändern aus, weil einer zusehends abgehobenen politischen Mitte das Programm und die Sprache abhanden gekommen sind, um auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen zu können und Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu liefern. Sie, gemeint sind da die beiden ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ und immer mehr auch die Grünen, sind nicht in der Lage, auf eigene Fehlleistungen zu reagieren, sie üben sich weiter in Phrasen und Stehsätzen. Ihnen fehlt das Feuer und die Leidenschaft beim Werben für ihre Ideen der Zukunft. Stattdessen verweilen sie in einem Verwaltungsmodus.
Ein immer größerer Teil in der Bevölkerung verliert den Glauben an den Gestaltungswillen der Regierenden. Also wendet er sich von der Mitte ab und sucht nach neuen Antworten oder altbekannten Lockrufen. Die FPÖ und KPÖ Plus sind die Wahlsieger. Kritik am Establishment ist nicht mehr länger ein Privileg der Blauen.
Die Kommunisten könnten, lange nur ein steirisches Phänomen, bei der nächs­ten Nationalratswahl eine linke Alternative darstellen. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat in seiner Zeitdiagnose den Begriff „neue Unübersichtlichkeit“ geprägt. Mit diesem längst geflügelten Wort kann man auch die politische Landschaft in Österreich beschreiben. Das Regieren, selbst das Suchen nach Mehrheiten, wird komplizierter. In Salzburg muss sich Wilfried Haslauer entscheiden, entweder mit der SPÖ eine Koalition einzugehen – mitunter die Grünen einzubinden – oder einen Bund mit der FPÖ. In beiden Fällen bietet das Sprengstoff für die in den Seilen hängende Bundesregierung. Die Kanzlerpartei versucht sich derweil ihre Niederlagen schönzureden und wird inhaltlich weiter nach rechts abdriften. Die Grünen verlieren die Luft zum Atmen und die SPÖ ist mit sich selbst beschäftigt. Österreich wird anders. Wo soll man jetzt anfangen?

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