Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 4. Oktober 2022. Von WOLFGANG SABLATNIG. "Problem erkannt, Lösung ungenügend". | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 4. Oktober 2022. Von WOLFGANG SABLATNIG. „Problem erkannt, Lösung ungenügend“.

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Kanzler Nehammer sucht die Zusammenarbeit mit Ungarn und Serbien, um die illegale Migration unter Kontrolle zu bringen. Die Ursachen sind aber zu komplex, um ihnen mit Zäunen und Hotspots begegnen zu können.

Seit Sebastian Kurz steht die ÖVP unter Generalverdacht: Wenn von Asyl und Migration die Rede ist, muss es den Türkisen ganz schlecht gehen. Dann greifen sie auf das Rezept zurück, das ihren kurzen Höhenflug befeuert hat. Gestern folgte Bundeskanzler Karl Nehammer einer Einladung des ungarischen Premiers Viktor Orbán nach Budapest. Gemeinsam mit Serbiens Präsidenten Aleksandar Vucic berieten sie die Lage auf der – was sonst? – Balkanroute. 
Der Generalverdacht wird genährt, wenn Nehammer in Budapest die EU-Kommission kritisiert – Seite an Seite mit EU-Rüpel Orbán, der über die Freundschaft mit dem „Schwager“ aus Wien schwärmt. Nicht der Bruder, aber auch kein Fremder, meint Orbán. Zumindest in der Migrationsfrage sind sie Brüder im Geiste. Österreichische Polizisten patrouillieren schon lange gemeinsam mit ungarischen Kollegen, um Schlepper und Migranten abzufangen.
Es würde aber an der Wirklichkeit vorbeigehen, den Ausflug Nehammers auf die Inszenierung zu reduzieren. Tatsächlich erreichen die Zahlen der Asylanträge wieder Dimensionen wie zuletzt 2015 und 2016.
Der Unterschied ist, dass damals viel mehr Menschen nur durchgereist sind. Wer bleibt, muss aber versorgt werden, damals wie heute. Jetzt sind aber auch Zehntausende Flüchtlinge aus der Ukraine im Land. 
Es stimmt, dass eine europäische Lösung nicht in Sicht ist. Das bisherige Asylsystem unter dem Stichwort „Dublin“ ist gescheiter­t. Und ein neues ist nicht in Sicht.
Die europäische Lösung kann dabei nicht so aussehen, wie Nehammer, Orbán und Vucic glauben machen wollen. Ein höherer Zaun wird illegale Grenzübertritte erschweren. Das Problem von „Pushbacks“ haben wir aber schon jetzt, dass also Migranten von Polizei brutal zurückgedrängt werden.
Auch strengere Visa-Vorschriften für die Einreise nach Serbien und damit nach Euro­pa bekämpfen nur die Symptome, ebenso wie Asyl-Hotspots außerhalb Europas.
Gefragt sind Lösungen, die den Druck in den Herkunftsländern abbauen. Gefragt sind Perspektiven für das Leben der Menschen, damit diese ihr Heil nicht in der Ferne suchen müssen. Gefordert sind die EU-Kommission, die Staaten, und damit auch Nehammer, Orbán und Vucic.
Die Forderung mag utopisch sein. Sie ist aber unabdingbar, wenn die Zäune nicht in den Himmel wachsen sollen und die illegale Migration dennoch nicht stoppen können. 
Wer diesen zweiten Schritt nicht mit demselben Einsatz verfolgt wie die Zäune und Hotspots, bestätigt nur den Generalverdacht.

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