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Studie: Ostmitteleuropa braucht neues Wachstumsmodell

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Wien (OTS) – Trotz solider Wachstumsraten steht auch Ostmitteleuropa vor ökonomischen Problemen. Wegen des akuten Chipmangels wird etwa allein die tschechische VW-Tochter Skoda heuer wohl 250.000 Autos weniger fertigen als geplant. Insgesamt erwirtschaften die 1.000 Firmen der Automobil- und Zulieferindustrie in Tschechien rund 10% des Bruttoinlandsprodukts, 20% der Exporte und beschäftigen 180.000 Menschen. „Das ist nur ein Beispiel für die große Abhängigkeit Ostmitteleuropas von arbeitsintensiven Exportindustrien, die in den nächsten Jahren einen massiven Strukturwandel durchmachen werden – Stichwort Elektromobilität, Klimaschutz und Digitalisierung“, sagt Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und Co-Autor einer neuen Studie zum Thema.

„Werkbank“ westlicher Konzerne

Viele der ostmitteleuropäischen EU-Mitglieder haben seit Mitte der 1990er-Jahre einen beeindruckenden ökonomischen Aufholprozess hingelegt. Das bisherige Erfolgsmodell, als „verlängerte Werkbank“ westlicher Konzerne arbeitsintensive Produktionsschritte zu übernehmen, stößt aber an seine Grenzen. Kombiniert mit großen strukturellen Veränderungen wie Dekarbonisierung und Digitalisierung macht das ein neues, innovationsbasiertes Wirtschaftsmodell für Ostmitteleuropa notwendig, so das Fazit der Studie. „Nur dann werden diese Staaten in der Lage sein, bei Produktivität und Lebensstandard mit Westeuropa gleichzuziehen“, meint Grieveson.

Das Problem: Die zentralen technologischen Kompetenzen und jene Teile der Produktion, mit der höchsten Wertschöpfung, finden sich in den „headquarter economies“ Westeuropas. Die EU- Mitglieder Ostmitteleuropas, also Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Rumänien, Bulgarien und die baltischen Staaten sind dagegen nach wie vor extrem spezialisiert auf arbeitsintensive Produktionen. Diese stehen und fallen mit niedrigen Arbeitskosten. Das begrenzt die Aussichten, mit Westeuropa wirtschaftlich gleichzuziehen. „Nehmen Sie nur die für die Region so wichtige Autoindustrie: Der Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor wird viele Arbeitsplätze kosten. Die Kosten des Übergangs, sowohl in sozialer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, könnten in Ostmitteleuropa ziemlich hoch ausfallen“, mahnt Grieveson.

Dazu kommt die hohe Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen und Exporten. Im Schnitt betrug der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen in die EU-Mitglieder Ostmitteleuropas in den Jahren 2010 bis 2019 pro Jahr 2,6% Prozent des BIP. In Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei entfielen davon rund 30% auf die produzierende Industrie. Handelbare Güter und Dienstleistungen schaffen je nach Land zwischen 20% und 30% der Wirtschaftsleistung und der Arbeitsplätze. In Tschechien, Lettland, Rumänien und der Slowakei entfällt mehr als die Hälfte der gesamten Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe auf ausländische Unternehmen. „Auch wenn manche von ihnen nach Corona von Nearshoring-Aktivitäten westlicher Konzerne profitieren dürften, werden ausländische Direktinvestitionen nicht mehr der große Wachstumstreiber sein“, gibt Grieveson zu bedenken.

Grüner, digitaler, mehr lokale Wertschöpfung

Das Wirtschaftsmodell Ostmitteleuropas müsse daher fit für die Zukunft gemacht werden. Dekarbonisierung, Digitalisierung und eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung erforderten massive Anstrengungen. Für Länder wie Polen sei der grüne Wandel eine große Herausforderung. „Dieser Übergang ist nur durch enorme öffentliche Investitionen in grüne Technologien und die Digitalisierung zu stemmen. Das bedeutet mehr Geld für Bildung, Forschung und Entwicklung sowie aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Bewältigung des Übergangs“, so Grieveson und erläutert: „Die Transformation in den 1990er-Jahren hatte zerstörerische soziale Folgen. Diesen Fehler sollten wir nicht noch einmal machen.“ Der Corona-Wiederaufbaufonds „NextGenerationEU“ sei hier sowohl in Bezug auf den Umfang als auch auf den Schwerpunkt ein Wendepunkt. Allerdings werde es nicht ohne mehr Flexibilität innerhalb des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU gehen, um mehr kreditfinanzierte Investitionen der öffentlichen Hand zu ermöglichen.

Da sich die Region nicht mehr so sehr auf ausländische Direktinvestitionen verlassen könne wie bisher, brauche es eine strategisch ausgerichtete Industriepolitik im Inland, um mehr global wettbewerbsfähige Unternehmen hervorzubringen. Ziel sollte es sein, ein nationales Innovationssystem zu schaffen, das den privaten Sektor, Universitäten, wichtige Ministerien und Sozialpartner vereint. Damit sollte Ostmitteleuropa in lukrativere Bereiche der Wertschöpfungskette vorstoßen. Digitale Technologien gelte es flächendeckend einzuführen – Stichwort Industrie 4.0. Potenzial ortet die Studie hier in Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei. Zudem verfügten viele Junge in der Region über digitale Qualifikationen, die über dem EU-Schnitt lägen.

Deutschland und Österreich würden profitieren, trotz
verschärften Standortwettbewerbs

Der erfolgreiche Übergang Ostmitteleuropas zu einem innovationsgetriebenen Wachstumsmodell ist für Deutschland und Österreich laut den AutorInnen von größter Bedeutung. Zusammengenommen sind die vier Visegrád-Länder Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn etwa der wichtigste Handelspartner Deutschlands, noch vor China den USA oder Frankreich. „Ein neues Wirtschafsmodell in diesen Ländern würde natürlich auch die Art der ökonomischen Interdependenz verändern: Es würde für Deutschland und Österreich unweigerlich mehr Wettbewerb um Unternehmenssitze, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen oder IT-Fachkräfte bedeuten“, so Grieveson. Unter dem Strich sollten sie davon aber profitieren.

Deutsche und österreichische Unternehmen werden weiterhin einen großen Teil ihrer Produktion in den EU-Mitgliedern Ostmitteleuropas ansiedeln und damit gute Gewinne erwirtschaften. „Doch je reicher die Region wird, desto mehr wird sie auch zu einer immer wichtigeren Nachfragequelle für Firmen aus Deutschland und Österreich“, sagt Grieveson. Immerhin leben in Ostmitteleuropa mehr als 100 Millionen Menschen, bei schneller wachsenden Einkommen als in Westeuropa. Mehr EU-Konjunkturmittel für die Region im Rahmen von „NextGenerationEU“ brächten zwangsläufig auch positive Spillover-Effekte für Deutschland und Österreich, prognostiziert die wiiw-Studie. Wenn die grüne und digitale Transformation also gelingt, dürfte ihre Bedeutung für beide Länder weiter steigen.

Die Studie [„Avoiding a Trap and Embracing the Megatrends:
Proposals for a New Growth Model in EU-CEE“] (https://wiiw.ac.at/p-5987.html) wurde von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragt und finanziert.

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