Die EU und die Mitgliedstaaten haben jahrzehntelang keine aktive Industriepolitik betrieben. „Insofern ist es zu begrüßen, dass die Notwendigkeit einer umfassenden Industriestrategie sowie einer Investitionsoffensive auf europäischer Ebene erkannt wird“, kommentiert Helene Schuberth, Chefökonomin des ÖGB, den neuen Wettbewerbsbericht von Mario Draghi. Ohne aktive Industriestrategie und entsprechende finanzielle Mittel kann die EU im internationalen Wettbewerb mit den USA oder asiatischen Ländern nicht bestehen. Draghi fordert Investitionen zwischen 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr bis 2030. „Das wäre ein dringend notwendiger Impuls für die europäische Konjunktur sowie für die Bewältigung der enormen Herausforderungen.“
„Äußerst positiv zu bewerten ist außerdem, dass der Bericht klarstellt, dass die Wettbewerbsfähigkeit der EU nicht auf Arbeitskosten reduziert werden kann, sondern Faktoren wie Innovation und Aus- und Weiterbildung in den Mittelpunkt gestellt werden müssen“, so Schuberth weiter. Das ist eine Abkehr von veralteten Argumenten, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit nur mit möglichst niedrigen Arbeitskosten abgesichert werden könnten.
Zu kritisieren sei das Festhalten an kritischen Aspekten der EU-Wirtschaftspolitik, so die ÖGB-Chefökonomin weiter. „Die strengen Fiskalregeln werden nicht in Frage gestellt. Politische Entscheidungsträger auf nationaler und europäischer Ebene werden aber zu beachten haben, dass diese dringend notwendigen und unverzichtbaren nationalen Investitionen in Milliardenhöhe auch mit den neuen, erst unlängst beschlossenen EU-Fiskalregeln in Konflikt geraten würden“. Europäische und nationale Gewerkschaften schlagen, um eine derartige Konfliktsituation zu vermeiden, vor, die benötigten zusätzlichen Zukunftsinvestitionen nicht in die Ausgaben für die Fiskalregeln einzurechnen.
Auch das Vorgehen gegen das sogenannte „Gold Plating“, also gegen die Übererfüllung von EU-Mindeststandards durch Mitgliedstaaten, ist nach Ansicht des ÖGB der falsche Weg. Damit wäre eine Erosion von bewusst besseren Standards etwa bei der Ausbildung, aber auch bei der Kontrolle von Lohn- und Sozialdumping, zu befürchten, erklärt Schuberth. „Dass ein Mitgliedstaat höhere Standards vorsieht, hat, beispielsweise im EU-Arbeitsrecht, sehr gute Gründe des öffentlichen Interesses, um Arbeitnehmer:innen, Umwelt, aber auch Verbraucher:innen zu schützen. Würde Österreich beispielsweise im EU-Arbeitsrecht keine Richtlinien übererfüllen, würde das im Klartext einen großflächigen Rückbau des Sozialstaats und massive Einschnitte in die Rechte der Beschäftigten darstellen. Mit der Integration Österreichs in die EU wurde der Bevölkerung versprochen, dass dies nicht passiert.“
Vorschläge unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus, die zur Verschlechterung wichtiger sozialer oder ökologischer Standards führen würden, lehnt der ÖGB ab. Absolut unverständlich und zurückzuweisen sind Empfehlungen für eine Art Spezialrecht für KMU und Start-ups, wobei zunächst diese Unternehmen von zentralen Aspekten des Arbeitsrechts und der Besteuerung oder digitalen Regelungen ausgenommen werden sollen. Nur gute Arbeitsbedingungen und attraktive Arbeitsplätze können die Produktivität erhöhen.
„Der Bericht enthält jedoch zu viele Überschriften. Die EU darf nicht länger nur über Maßnahmen diskutieren, während andere Länder wie die USA schon längst aktiv sind. Es muss endlich mit öffentlichen Investitionen reagiert werden. Nur so ist es möglich Unternehmen und ihre Beschäftigten in Europa fit zu machen gegen die Konkurrenz aus anderen Kontinenten und die langanhaltende Konjunkturschwäche sowie die Dekarbonisierung und Digitalisierung zu bewältigen“, fasst Schuberth zusammen: „Einzelne Maßnahmen könnten den Standort Europa allerdings eher schwächen. Die Gewerkschaften werden sich aktiv in die Ausgestaltung des industriepolitischen Plans einbringen. Europas Wettbewerbsfähigkeit kann nur durch eine Fachkräftestrategie, qualifizierte Arbeitnehmer:innen und einen Ausbau der Infrastrukturen und der sozialen Sicherheit gesteigert werden – und nicht durch Lohn- und Sozialdumping.“
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