Vor dem Hintergrund der Nationalratswahl am 29. September hat die Parlamentskorrespondenz mit dem deutschen Demokratieforscher Wolfgang Merkel und der österreichischen Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs gesprochen. Sie erklären, was eine Demokratie ausmacht, ob die Neuwahl in Frankreich am Sonntag demokratiepolitisch vorbildhaft ist und warum die größte Demokratie der Welt eine „defekte“ ist.
Das Volk regiert sich selbst
Österreich ist eine parlamentarische Demokratie. Das heißt laut Webportal des österreichischen Parlaments: „Alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, ihre Meinung in gegenseitigem Respekt zu äußern und ihre Anliegen zu vertreten. Im Parlament geschieht das durch die verschiedenen Parteien und die einzelnen Mandatar:innen.“
Der deutsche Demokratieforscher Wolfgang Merkel definiert die Demokratie so: „Demokratie ist eine imperfekte, aber die bisher bestmögliche Form des Volkes, sich selbst zu regieren.“ In einer modernen, komplexen Flächendemokratie bedürfe es einer Repräsentation im Parlament und in der Regierung, so Merkel. Das Parlament sei ein unmittelbarerer demokratischer Ort als Regierungen, es sei das zentrale Element der repräsentativen Demokratie. „Wir sind nicht mehr in der attischen Demokratie, wo einige hundert Männer am Marktplatz direktdemokratisch Politik machen. Im modernen Staat erfolgt die Willensbildung über Parteien, die in Parlamenten organisiert sind“, führt Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs aus. Der Kern der Demokratie sei zwar das gewählte Parlament, sie brauche aber viel mehr: „Freie Medien und eine pluralistische Berichterstattung, um sich eine Meinung bilden zu können. Eine Zivilgesellschaft, die das Parlament und Regierungsmitglieder kontrollieren und korrigierend eingreifen kann. Eine Zivilgesellschaft, die sich versammeln oder Bürgerinitiativen einbringen kann. Eine starke Justiz und einen starken Rechtsstaat“, zählt sie auf.
Beteiligung erhöhen mit Wahlpflicht und Digitalisierung
Der Ruf nach mehr Elementen direkter Demokratie wird speziell vor Wahlen immer wieder laut. Dabei gehe die Wahlbeteiligung in den letzten Jahrzehnten vor allem bei Regional- und Kommunalwahlen zurück, so Ehs. Weil das nicht nur ein österreichisches Phänomen ist, gebe es immer mehr Politikwissenschaftler:innen, die sich für eine Wahlpflicht aussprechen, betont sie. Angesichts der sozialen Schieflage der Beteiligung kann auch Ehs dieser Idee etwas abgewinnen. In Österreich gab es in einigen Bundesländern bis 1992 eine Wahlpflicht bei Nationalratswahlen, bei Bundespräsidentschaftswahlen in Tirol sogar bis 2004. Tamara Ehs erklärt, dass sie zuletzt kaum mehr exekutiert worden sei und man meinte, die Bürger:innen seien nicht zuletzt aufgrund der vermehrten politischen Bildung eigenverantwortlich. Denn auch in Bundesländern ohne Wahlpflicht sei die Wahlbeteiligung lange Zeit mit über 80 Prozent bei Nationalratswahlen sehr hoch gewesen und sei es im internationalen Vergleich noch heute.
Eine Möglichkeit, um mehr Bürger:innen zur Stimmabgabe zu bewegen, wird auch in der Digitalisierung von Wahlen gesehen. Diese Hoffnung beziehe sich vor allem auf junge Menschen, so Ehs. Wahlen nur noch online abzuhalten, halten weder sie noch Merkel für eine gute Idee. Auch verfassungsrechtlich sei das nicht möglich, erklärt Ehs, weil Wahlen alle Wahlberechtigten erreichen müssten. Doch alles, was den Wahlvorgang erleichtere oder niederschwelliger mache, sei zu begrüßen, von den baltischen Staaten könne man hier einiges lernen, sagen die beiden Experten. Durch die Digitalisierung sei in Österreich generell die Partizipationsmöglichkeit am Gesetzgebungsprozess erhöht worden. Ehs nennt etwa die Möglichkeit, Volksbegehren digital zu unterzeichnen und das erweiterte Begutachtungsverfahren, wodurch alle Bürger:innen Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben abgeben und einsehen könnten.
Das „demokratiepolitische Desaster“ rund um Frankreichs Neuwahlen
Die letzte Wahl, an der sich die Österreicher:innen beteiligen konnten, war die Wahl zum Europäischen Parlament. Die Ergebnisse der Wahl Anfang Juni nahm Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zum Anlass, nationale Neuwahlen für den 30. Juni auszurufen und das Parlament aufzulösen. Das Macron-Lager erhielt bei der EU-Wahl mit gut 15 % nur halb so viel Stimmen wie der Rassemblement National (32 %). Ob das demokratiepolitisch vorbildliches Handeln ist? Wolfgang Merkel hält es für „nicht akzeptabel“, wenn der Staatspräsident das Parlament auflöst. In Frankreich ist das verfassungstechnisch möglich. Merkel spricht von „einer Art Manipulation, Macron will damit versuchen, eine Mehrheit für sich zu erzwingen“. Als „demokratiepolitisches Desaster“ bezeichnet Politikwissenschaftlerin Ehs die Art und Weise, wie Macron vor einem Jahr eine Rentenreform durchgesetzt habe, nämlich ohne Mehrheit im Parlament und begleitet von massiven Protesten. Der Artikel 49.3 der französischen Verfassung ermögliche es der Regierung, einmal pro Sitzungsperiode ohne Parlamentsmehrheit ein Gesetz zu verabschieden. „Verfassungsrechtlich in Ordnung, aber aus Sicht der Bevölkerung autoritär und auf Kosten der Demokratie“, so Ehs. Seither habe die französische Demokratie einen Stresstest erlebt, Neuwahlen hätten sich schon vor der EU-Wahl abgezeichnet. Macron stelle nun die Vertrauensfrage.
In Österreich ernennt die Bundespräsident:in die Bundeskanzler:in nach freiem Ermessen. Im Parlament reicht es aus, wenn zumindest „kein Misstrauen“ ausgesprochen wird, erklärt Ehs. In Italien wird derzeit die Direktwahl des Regierungsoberhauptes diskutiert. Bisher sei das System ähnlich wie in Österreich. Eine Direktwahl des Staatsoberhauptes würde auf Kosten des Parlaments und des Staatspräsidenten gehen, ist die Expertin überzeugt. Ein einziger Mensch würde dann über zwei Staatsgewalten herrschen, das austarierte System der Gewaltenkontrolle würde ausgehebelt. „Das kann leicht ins Autoritäre kippen“, so Ehs. Die parlamentarische Demokratie sei langwierige Kompromisssuche und Zusammenarbeit, das Parlament werde leider oft als „Kasperltheater“ herabgewürdigt: „Bei einem Kompromiss wird nicht selten so getan, als würden alle verlieren, aber im Gegenteil: alle gewinnen ein bisschen. Das ist Demokratie. Wo nur einer gewinnt, ist Diktatur“, betont die Politikwissenschaftlerin.
Demokratien weltweit rückläufig
Für Wolfgang Merkel hat das Modell Demokratie Mängel und Fehler, er zitiert Winston Churchill: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.” Indien wird oft als die größte Demokratie gehandelt. Für den deutschen Demokratieforscher ist sie allerdings eine „Art von defekter Demokratie mit großen Mängeln, die sich gegenwärtig hin zu einem autoritären Regime entwickelt“. Indien sei eine „schlechtere Demokratie“ als Ungarn. Weil Indien so weit weg sei, würde man das manchmal vergessen. Wenn man nun die defekte Demokratie Indiens beiseitelässt, wäre die größte Demokratie Amerika. „Auch das ist kein Vorbild mehr“, urteilt Merkel. Schon das amerikanische Wahlsystem sei ein Desaster. Es sei überholt und für Manipulation anfällig.
Generell konstatiert er seit 2008 einen „Rückgang der demokratischen Qualität politischer Herrschaft auf der ganzen Welt“. Merkel geht davon aus, dass die Mehrheit politischer Regime eine Hybridform haben, in Lateinamerika gebe es dafür den Begriff „Democradura“. Demokratie sei ein relativ umstrittener Begriff – die Regierungen der meisten Staaten würden eher in Grauzonen operieren als im Rahmen einer rechtsstaatlichen Demokratie. Merkel spricht von „Elektoralen Demokratien“, wenn er von „relativ akzeptablen“ aber minimalistischen Demokratieformen spricht und Zahlen nennt: 120 seien es im Jahr 2000 gewesen, jetzt nur noch 100. Die Zahl der Regime, die keine Demokratien seien, liege ebenfalls bei 100. Merkel betont: „Wenn man die Zahl der Menschen heranzieht, die in rechtsstaatlichen Demokratien lebt, dann ist das deutlich weniger als jene in Diktaturen und hybriden Regimen.“ (Schluss) map
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