Der Nationalrat hat zum Auftakt seiner Plenarwoche die Einführung von Sonderwochengeld beschlossen. Frauen, die sich für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld entschieden haben und nach dessen Auslaufen noch einige Monate in Elternkarenz bleiben, sollen damit für den Fall, dass sie in diesem Zeitraum ein weiteres Kind bekommen, sozialrechtlich abgesichert werden. Wie das Wochengeld wird das Sonderwochengeld je acht Wochen vor und nach der Geburt des Kindes gebühren, auch die weiteren Bestimmungen – etwa was einen verlängerten Bezug oder Regelungen für selbstversicherte Personen betrifft – sind dem Wochengeld nachgebildet. Die neue Regelung wird rückwirkend mit September 2022 in Kraft treten, entsprechende Anträge sind bis 30. Juni 2025 einzubringen.
Im Nationalrat zur Diskussion stand auch der Sozialbericht 2024. Außerdem haben die Abgeordneten eine Novelle zum Opferfürsorgegesetz verabschiedet. Damit werden auch sogenannte „Berufsverbrecher“ ausdrücklich als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Ein Entschließungsantrag der SPÖ betreffend Einführung einer Kindergrundsicherung blieb in der Minderheit.
Breite Zustimmung zum Sonderwochengeld
Für die Einführung von Sonderwochengeld stimmten alle Fraktionen mit Ausnahme der NEOS. Die betroffenen Arbeitnehmerinnen hätten sich freiwillig sowohl für das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld als auch für eine verzögerte Rückkehr in ihren Job entschieden und sich damit die Wochengeldfalle „selbst gebaut“, machte NEOS-Abgeordneter Gerald Loacker geltend. Nun müssten diejenigen, die zwei Jahre lang ein niedrigeres Kinderbetreuungsgeld bezogen haben, diese Gruppe mit ihrem Steuergeld „querfinanzieren“, obwohl es sich bei Bezieher:innen von einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld hauptsächlich um Besserverdienende handle. „Das ist falsch“, pochte er auf „Eigenverantwortung“.
Bei den anderen Parteien stieß Loacker mit dieser Argumentation allerdings auf kein Verständnis. So wertete etwa Barbara Neßler (Grüne) die geltende Rechtslage als eine Ungerechtigkeit für Frauen, die knapp hintereinander Kinder bekommen. Frauen dürften nicht bestraft werden, wenn sie „zu früh“ ein zweites Kind bekommen, betonte sie und zeigte sich in diesem Sinn auch über die rückwirkende Geltung der Gesetzesnovelle und die mit dem Sonderwochengeld verbundene Kranken- und Pensionsversicherung erfreut. Allgemein betonte Neßler, dass die Regierungsparteien in den letzten Jahren im Familienbereich „viel weitergebracht“ hätten, wiewohl sie die Familienpolitik damit aber noch lange nicht ans Ende angelangt sieht.
Ausdrücklich für die Gesetzesnovelle bedankte sich SPÖ-Abgeordneter Alois Stöger. Für Frauen sei es im Sinne der Autonomie wichtig, dass sie rund um die Geburt eines Kindes ein eigenes Einkommen haben, bekräftigte er. Handlungsbedarf sieht er allerdings bei den allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen: Die Regelungen für Kinderbetreuungsgeld, Karenz und Wochengeld seien kompliziert geworden und sollten vereinfacht werden.
Ministerium rechnet mit rund 1.300 Betroffenen pro Jahr
Kritische Einwürfe kamen von FPÖ-Abgeordneter Rosa Ecker. Die „Wochengeldfalle“ zu beseitigen sei wichtig, es habe aber lange gedauert, monierte sie. Zudem beklagte sie, dass betroffene Mütter selbst aktiv werden müssten, damit sie die vorgesehene Nachzahlung erhalten. Generell meinte Ecker, dass Kinder zu bekommen, zunehmend zu einer Frage der Leistbarkeit werde, zumal es in dieser Legislaturperiode nicht gelungen sei, das Unterhaltsrecht zu reformieren.
Es seien nicht die Rahmenbedingungen, sondern in erster Linie persönliche Erwägungen, warum sich immer weniger Frauen für Kinder entscheiden würden, hielt demgegenüber Bettina Zopf (ÖVP) mit Verweis auf eine neue Studie fest. Es herrsche großes Bewusstsein vor, dass Kinder viel Arbeit, Zeit und Geld bedeuten. In diesem Sinn hält sie es für wichtig, Familien zu unterstützen. Als zweifache Mutter wisse sie, wie wichtig Kinderbetreuungsgeld und Wochengeld seien.
Gemäß den Erläuterungen zur Gesetzesnovelle rechnet das Sozialministerium beim Sonderwochengeld – ohne Nachzahlungen – mit rund 1.300 Betroffenen und Kosten von rund 10,56 Mio. € pro Jahr.
Anerkennung von „Berufsverbrechern“ als NS-Opfer
Hauptsächlich symbolischen Charakter hat die Anerkennung sogenannter „Berufsverbrecher“ als NS-Opfer, die vom Nationalrat auf Basis eines gemeinsamen Antrags von ÖVP, SPÖ und Grünen einstimmig beschlossen wurde. Von jenen Personen, die vom NS-Regime als „asozial“ und kriminell eingestuft wurden und die deshalb in Konzentrationslager deportiert oder in anderer Form politisch verfolgt wurden, lebe den Recherchen der Grünen zufolge niemand mehr, hielt Grün-Abgeordnete Eva Blimlinger fest. Zudem hatten Betroffene bereits nach geltender Rechtslage Anspruch auf eine Opferrente, lediglich die Ausstellung einer Amtsbescheinigung bzw. eines Opferausweises blieb ihnen zum Teil versagt.
Blimlinger und die Abgeordneten Sabine Schatz (SPÖ), Kira Grünberg (ÖVP), Christian Ragger (FPÖ) und Fiona Fiedler (NEOS) halten es dennoch für eine wichtige symbolische Geste, die bestehende Lücke im Opferfürsorgegesetz zu schließen. Laut Blimlinger sind zum Beispiel auch Personen, die vor 1938 in Schlägereien mit Nationalsozialisten verwickelt waren, als „Berufsverbrecher“ deportiert worden. Auch wer vor der Machtübernahme des NS-Regimes ein Eigentumsdelikt begangen und die Strafe dafür längst abgesessen hatte, konnte Schatz zufolge im KZ landen. Die Nationalsozialisten hätten das als vorbeugende Verbrechensbekämpfung bezeichnet, schilderte sie. In diesem Sinn kommt die Gesetzesnovelle ihrer Meinung nach „reichlich spät“.
Stetige Ausweitung des Opferfürsorgegesetzes
Blimlinger erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass das erste – 1945 beschlossene – Opferfürsorgegesetz nur für Widerstandskämpfer:innen galt. Jüdinnen und Juden seien erst im Jahr 1947, andere Opfergruppen wie Roma und Sinti oder Menschen mit Behinderung noch weitaus später einbezogen worden. Ein bleibender Wermutstropfen ist für sie, dass das Gesetz immer noch zwischen aktiven Opfern wie Widerstandskämpfer:innen und passiven Opfern unterscheidet, sie hält das für eine Diskriminierung.
Sowohl FPÖ-Abgeordneter Ragger als auch ÖVP-Abgeordnete Grünberg wiesen darauf hin, dass es in anderen Opfergesetzen wie dem Impfschadengesetz oder dem Verbrechensopfergesetz keine analogen Einschränkungen in Bezug auf nicht getilgte Freiheitsstrafen gebe. Für Grünberg geht es außerdem um historische Gerechtigkeit und darum, gegen Geschichtsrevisionismus anzukämpfen. Ragger sprach von einem wichtigen Schritt zur Aufarbeitung der Vergangenheit.
Einen Bogen zum Thema Demokratie spannte NEOS-Abgeordnete Fiedler, wobei sie bedauerte, dass „fast die Hälfte der Bevölkerung“ ihr Wahlrecht bei den EU-Wahlen nicht in Anspruch genommen hat.
Sozialbericht 2024: Debatte über österreichischen Sozialstaat
Im Rahmen der Diskussion über den Sozialbericht 2024 legten die Parteien ihre Standpunkte zum heimischen Sozialstaat dar. Sozialminister Johannes Rauch bezeichnete Sozialleistungen als gerechtfertigte Investitionen in Menschen. „Wenn wir den sozialen Frieden halten wollen, müssen uns Investitionen in die Absicherung der Menschen etwas wert sein“, sagte er. Er führte unter anderem Maßnahmen zur Bekämpfung der Krisen sowie Investitionen in Pflege und Gesundheit an. Handlungsbedarf sieht er beim Thema Kinderarmut. Der Bericht zeige, dass die Folgen von Kinderarmut mit zweistelligen Milliardenbeträgen zu Buche schlagen. Es sei daher auch aus volkswirtschaftlicher Sicht „unsere Verpflichtung“, Kinderarmut zu bekämpfen.
Grüne wollen über Reichtum reden
Für Abgeordnete Barbara Neßler (Grüne) führt „früher oder später kein Weg vorbei an einer Kindergrundsicherung“. Mit dem beschlossenen Kinderarmutspaket sowie der Valorisierung der Familien- und Sozialleistungen habe man aber bereits vieles abfedern können. Auch laut Markus Koza (Grüne) wirkt der Sozialstaat. Darauf könne man stolz sein. Dennoch ortet er Schwachstellen und führte etwa die unter Türkis-Blau eingeführte Sozialhilfe neu als „einen der größten Sündenfälle“ an. Wer von Armut rede, dürfe außerdem über Reichtum nicht schweigen, so Koza. Seiner Meinung nach müsse man über die im Band 2 des Berichts empfohlene Steuerstrukturreform und eine gerechtere Vermögensbesteuerung reden. „Inakzeptabel“ sei, dass die Autor:innen dieser Empfehlungen von der Österreichischen Nationalbank so etwas wie ein „Sprechverbot“ auferlegt bekommen hätten. Das gehöre schleunigst zurückgenommen, forderte der Abgeordnete.
ÖVP sieht österreichischen Sozialstaat „extrem gut aufgestellt“
Vonseiten der ÖVP hob Ernst Gödl die Pflegepakete, Verbesserungen für Freiwillige sowie Maßnahmen zur Armutsbekämpfung positiv hervor. Der Sozialstaat ist seiner Meinung nach „extrem gut aufgestellt“, um Armut zu bekämpfen. Man müsse ihn „für alle bereithalten, die ihn brauchen, aber den Laden schließen für alle, die ihn missbrauchen“, sagte Gödl und sprach sich für Änderungen im Zusammenhang mit Zuwanderung aus. Michael Hammer (ÖVP) sprach von einem „tollen Sozialsystem“ in Österreich. Viele der in Band 2 des Berichts empfohlenen Maßnahmen halte er aber für nicht notwendig.
NEOS kritisieren sozialpolitische Analysen
Heftige Kritik am zweiten Band des Sozialberichts übte Gerald Loacker (NEOS). Sowohl bei der Datenlage als auch bei den Schlüssen, die die Autor:innen ziehen, müsse man sich „an den Kopf greifen“, sagte er. Man würde merken, dass sozialdemokratisch sozialisierte Personen im Ministerium arbeiten, weil SPÖ-Forderungen übernommen worden seien. Insgesamt seien „400 Seiten für die Fische“, attestierte der Abgeordnete. Fiona Fiedler (NEOS) forderte Investitionen in einen nachhaltigen Sozialstaat statt eines Budgetminus im Sozialbereich.
FPÖ ortet „unzureichendes Krisenmanagement“
Christian Ragger (FPÖ) zufolge zeigt der Bericht, dass die Regierung die Zeichen der Zeit im Sozialwesen nicht erkannt habe. Das Sozialhilfegesetz werde „mit Füßen getreten“. Man versuche, „immer mehr Ausländer in das System zu bekommen“, so Ragger. Auch im Pflegebereich und bei Menschen mit Behinderungen sieht er Verbesserungsbedarf. Rosa Ecker (FPÖ) zufolge hat die Regierung durch ihr „unzureichendes Krisenmanagement“ in Zeiten hoher Inflation den Wohlstandsverlust im Land vorangetrieben. Ihr Fraktionskollege Peter Wurm (FPÖ) nutzte die Debatte, um auf die Europawahl vergangenen Sonntag Bezug zu nehmen. Seiner Meinung nach hätte ein Viertel der Menschen gezeigt, dass sie sich Veränderung wünschen, die mit den Ideen der Regierung aber nicht eintreten werde. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka rief Wurm zweimal dazu auf, zum Gegenstand der Debatte Stellung zu nehmen.
SPÖ drängt auf Kindergrundsicherung
Philip Kucher (SPÖ) warf der FPÖ vor, die „kleinen Leute“ jahrelang im Stich gelassen zu haben. Herbert Kickl bezeichnete er angesichts seiner langen Karriere als „System auf zwei Beinen“. Wie sein Fraktionskollege Josef Muchitsch kritisierte auch Kucher, dass die aktuelle Bundesregierung die Teuerung nicht bekämpft habe. Verena Nussbaum (SPÖ) wiederum bemängelte, dass Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt nach wie vor ausgeschlossen seien. Gabriele Heinisch-Hosek und Mario Lindner (beide SPÖ) sprachen sich für eine Kindergrundsicherung aus. Heinisch-Hosek brachte dazu auch einen entsprechenden Entschließungsantrag ein. Mit diesem forderten die Sozialdemokrat:innen Investitionen in den Ausbau kostenfreier kindbezogener Infrastruktur, einen Universalbetrag für alle, sowie einkommensabhängige Leistungen für armutsbetroffene Kinder. Der Antrag fand keine Mehrheit. Der Sozialbericht wurde mehrheitlich zur Kenntnis genommen. (Fortsetzung Nationalrat) gs/kar
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