Fast 70.000 Erwachsenenvertretungen

Das 2. Erwachsenenschutzgesetz gilt als positives Beispiel zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Das wurde auch im Zuge der Staatenprüfung Österreichs zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hervorgehoben. Als das Erwachsenenschutzgesetz 2018 in Kraft trat, gab es in Österreich einen Höchststand von rund 52.700 Sachwalterschaften. Fünf Jahre später ist die Zahl der „gerichtlichen Erwachsenenvertretungen“, wie sie nun heißen, um 34 % auf knapp 35.000 gesunken.

Ca. 6.000 Personen haben derzeit eine gerichtliche Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz. Der Erwachsenenschutzverein bietet auch Beratungen und Schulungen zum Thema an und erhebt im Auftrag der Gerichte, ob Erwachsenenvertretungen wirklich notwendig sind („Clearing“). Bei VertretungsNetz begrüßt man den Rückgang an gerichtlichen Erwachsenenvertretungen als eines der Ziele der ambitionierten Reform. Grund zum Jubeln sieht man allerdings nicht:

„Parallel zum Rückgang der gerichtlichen steigt die Zahl der ‚gesetzlichen Erwachsenenvertretungen‘. Die Anzahl an Vertretungen, die ohne Mitsprache der betroffenen Person zustande gekommen sind, ist damit in Summe in den letzten fünf Jahren deutlich um fast 17 Prozent gestiegen“, gibt Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz zu bedenken.

In den letzten fünf Jahren wurden österreichweit ca. 26.500 gesetzliche Erwachsenenvertretungen registriert. Als „gesetzliche:r Erwachsenenvertreter:in“ können sich nächste Angehörige registrieren lassen, wenn Betroffene eine Erwachsenenvertretung nicht (mehr) wählen können, z.B. weil eine demenzielle Erkrankung schon zu weit fortgeschritten ist. Die vertretene Person hat zwar ein Widerspruchsrecht, muss der Vertretung aber nicht ausdrücklich zustimmen.  

Anders verhält es sich bei der „gewählten Erwachsenenvertretung“, wo Betroffene mit nur leicht eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit ihre:n Erwachsenenvertreter:in (noch) selbstbestimmt wählen können. Schon 8.120 solcher Vertretungen gibt es bereits in Österreich, die Tendenz ist erfreulicherweise steigend. Zwei Drittel davon wurden bei einem der vier anerkannten Erwachsenenschutzvereine errichtet.

Unterstützung fehlt

Insgesamt gibt es in Österreich derzeit schon fast 70.000 Erwachsenenvertretungen. „Nach dem Gesetz dürfte es jedoch keine Erwachsenenvertretung geben, wenn Unterstützung ausreicht, um trotz eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit die eigenen Angelegenheiten selbst regeln zu können. Leider bleibt das Angebot seitens der Bundesländer nach wie vor unzureichend. Es fehlen z.B. Leistungen wie persönliche Assistenz für Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie gemeindenahe Angebote zur unterstützten Entscheidungsfindung. Auch der Zugang zu Behörden ist mit vielen Barrieren verbunden und verhindert eine selbstbestimmte Lebensführung“, stellt Marlovits fest.

Der UN-Ausschuss über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat wiederholt daran erinnert, dass die Behindertenrechtskonvention für alle Teile eines Bundesstaats gilt. Die Landesregierungen sind daher aufgefordert, auch so zu handeln. „Während eine umfassende Strategie zur De-Institutionalisierung unter echter Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen fehlt, wird weiter am föderalen Fleckerlteppich gewoben. Leistungen der Sozial- und Behindertenhilfe werden nur punktuell und unzureichend zur Verfügung gestellt“, kritisiert Marlovits.

Selbstbestimmung und Inklusion scheitern in der Praxis: So läuft u.a. das in der UN-BRK formulierte Recht auf die freie Wahl des eigenen Wohnorts ins Leere, wenn mobile Dienste zu wenig ausgebaut oder zu teuer sind. Pflegebedürftigen Menschen mit Mindesteinkommen oder mit einer durchschnittlichen Alterspension ohne Ersparnisse bleibt dann oft keine andere Wahl, als der Umzug in ein Heim – die für den Staat teuerste Variante.

Evaluierung läuft

Derzeit läuft eine Evaluierung des Erwachsenenschutzgesetzes im Justizministerium. Sie soll sicherstellen, dass die Reformziele nicht unterlaufen werden. Denn die Praxis zeigt, dass die Intention des Gesetzes – mehr Autonomie und Selbstbestimmung – sowohl bei politischen Entscheidungsträger:innen als auch bei Behörden, Banken und im Gesundheitssystem noch nicht ausreichend angekommen ist.

Immer wieder melden sich auch Angehörige Rat suchend an VertretungsNetz, wenn sie erleben, dass familienfremde gerichtliche Erwachsenenvertreter:innen nicht zum Wohl ihrer Klient:innen handeln. Wenn die Betroffenen selbst sich aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht (mehr) bei Gericht äußern können, haben Angehörige keine Handhabe. Hier bräuchte es eine unabhängige Beschwerdestelle, die etwaigen Vorwürfen nachgeht und den Menschen zu ihrem Recht verhilft, angemessen vertreten zu werden. 

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