15. Österreichischer Zeitgeschichtetag: „Zeitenwenden – Wendezeiten?“

Mit mehr als 300 Besucher:innen bot der Österreichische Zeitgeschichtetag 2024 ein breites Spektrum konstruktiver Diskussionsformate über epochale Zäsuren, politische Neuorientierungen und gesellschaftliche Umbrüche.

Vom 11. bis zum 13. April 2024 luden der Arbeitsbereich Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz und das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung (BIK) zum 15. Zeitgeschichtetag ein, um politische, gesellschaftliche, ökonomische, technologische und theoretische Einschnitte, Kontinuitäten und Unsicherheiten in der Zeitgeschichte kritisch zu reflektieren. Bei dieser größten wissenschaftlichen Veranstaltung der österreichischen Zeitgeschichteforschung widmeten sich 44 Panels den Themenschwerpunkten „Zäsuren und Kontinuitäten“, „Un-Gewissheiten und Un-Sicherheiten“, „Digitale Zeitenwenden und Herausforderungen“ und „Open Space – Zeitgeschichte und Medien“. Die beiden Organisatorinnen, Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des BIK, und Christiane Berth, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Graz, freuten sich über das große Interesse an den rund 100 Vorträgen und Diskussionen. Die Mischung unterschiedlicher zeithistorischer Disziplinen ermöglichte den lebhaften Austausch über inhaltliche wie methodische Herausforderungen sowie Perspektiven des Fachs Zeitgeschichte und regte zur Weiterführung der Diskussionen an.

Doppeltes Jubiläum

Im Rahmen des Kongresses wurden bei einem von Claudia Reiterer moderierten Festakt in der Aula der Universität Graz zwei Graz-spezifische Jubiläen gefeiert: 30 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung und 40 Jahre Arbeitsbereich Zeitgeschichte an der Universität Graz.

Barbara Stelzl-Marx, die die zahlreichen Ehrengäste begrüßte, betonte in ihrem Beitrag: „Wir können schon heute davon ausgehen, dass der russische Angriff auf die Ukraine als Zeitenwende in die Geschichte eingehen wird, als Beginn eines neuen Kalten Kriegs. Vor diesem Hintergrund ist die Kriegsfolgenforschung besonders aktuell und gesellschaftspolitisch relevant. Dazu zählen etwa Schwerpunkte wie Kinder des Krieges, Zwangsmigration oder die Tätigkeit von Nachrichtendiensten.“ 

Auch Christiane Berth betonte, dass „die Zeitgeschichte nah an der Gegenwart und ständig in Bewegung ist. Das macht unser Fach spannend. Wir stehen jetzt vor der Herausforderung, das 21. Jahrhundert zeithistorisch einzuordnen: die weithin sichtbaren globalen Zäsuren aber auch solche Veränderungen, die sich zuerst im Verborgenen entwickelten und länger andauerten.“ 

Der unter dem Ehrenschutz von Bundespräsident Dr. Alexander Van der Bellen stattfindende Festakt wurde u. a. von Peter Riedler, dem Rektor der Universität Graz, und Freyja-Maria Smolle-Jüttner, Präsidentin der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, eröffnet. Rektor Peter Riedler hob dabei hervor: „Der österreichische Zeitgeschichtetag spiegelt genau das wider, wofür die Universität Graz steht: Wir geben Antworten auf die Fragen unserer Zeit und liefern dafür Erklärungen – dabei hilft der Blick auf die Vergangenheit, um das Heute besser zu verstehen.“ 

Freyja-Maria Smolle-Jüttner, die Präsidentin der Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG) verwies mit Stolz darauf, dass „das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung mit seiner 30-jährigen Geschichte aktueller denn je ist. Es betrachtet staatliche, gesellschaftliche, ökonomische sowie soziale, humanitäre und kulturelle Folgen dieser Konflikte, was die Vielseitigkeit und Relevanz der Kriegsfolgenforschung unterstreicht. Wir sehen heute, wie multiple Krisen gleichzeitig Gesellschaften unter Druck setzen können. Diese Mechanismen zu untersuchen und zu verstehen ist die Voraussetzung dafür, auch in Zukunft damit umgehen und sie lösen zu können.“

Die Festansprachen hielten Bundesminister Martin Polaschek und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Bundesminister Martin Polaschek fasste zusammen: „Durch intensive Forschungs- und Vermittlungstätigkeiten beider Institute konnten in den letzten vier Jahrzehnten bedeutende Fortschritte in der österreichischen Zeitgeschichteforschung erzielt werden. Die Vielzahl an abgeschlossenen und laufenden Forschungsprojekten verdeutlicht eindrucksvoll die entscheidende Rolle, die die Aufarbeitung der Vergangenheit auch für unsere Gegenwart und Zukunft spielt.“ 

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka betonte in seiner Ansprache: „Die Herausforderungen einer postmodernen Geschichtsschreibung sind heute mehr denn je erkennbar, da dem Subjektivismus und Relativismus immer mehr Platz eingeräumt wird, sodass es kaum mehr einen allgemein anerkannten Kriterienkatalog einer modernen Geschichtswissenschaft geben könne.“ Abschließend hielt er fest: „Die Geschichtsvergessenheit der demokratischen Gesellschaften stellt eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für die repräsentative Demokratie dar.“

Stefan Karner, Gründer und langjähriger Leiter des BIK, und Helmut Konrad, Gründer der Zeitgeschichte und ehemaliger Rektor an der Universität Graz, gaben einen unmittelbaren Einblick in die Anfangsphasen ihrer Forschungen. Wissenschaftslandesrätin Barbara Eibinger-Miedl und Bürgermeisterin Elke Kahr betonten die große Bedeutung der zeithistorischen Forschungen für den Wissenschaftsstandort Steiermark und Graz. o

Keynote zum Ukrainekrieg

Einen Höhepunkt des Festaktes stellte die Keynote zum Ukraine-Krieg dar. Der renommierte Professor für ukrainische Geschichte Serhii Plohkii von der Harvard Universität beleuchtete in seinem Vortrag „Did the History Make its Turn?“ das Thema des Zeitgeschichtetages „Zeitenwenden – Wendezeiten?“ am Beispiel des russischen Überfalls auf die Ukraine aus aktueller Sicht: „Die Friedensperiode in Europa, die mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 begann, ist vorüber. Nur mit der Wiederherstellung der internationalen Ordnung und des Völkerrechts wird in Europa Friede gewahrt werden können.“

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