Ein weiteres und letztes Mal befassten sich in der heutigen Sitzung des Nationalrats die Abgeordneten mit dem Volksbegehren unter dem Titel "Nehammer muss weg". Insgesamt 106.440 Bürger:innen hatten ihm ihre Unterschrift gegeben, womit es knapp die 100.000er-Hürde zur Behandlung im Parlament genommen hat.
ÖVP und Grüne sahen eine fragwürdige Verwendung des direktdemokratischen Instruments. Die Freiheitlichen unterstützen die Aussagen des Volksbegehrens vollinhaltlich und sahen den Kanzler als "rücktrittsreif". Laut den Abgeordneten der SPÖ und der NEOS sind viele Begründungen im Volksbegehren zwar nicht nachvollziehbar. Dass die Bundesregierung in vielen Bereichen der Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftspolitik versagt habe stehe aber außer Zweifel, so der Tenor ihrer Wortmeldungen.
Die Beratungen über das Volksbegehren hätten schon im Februar abgeschlossen werden sollen. Da die Initiator:innen aufgrund einer Kommunikationspanne allerdings nicht an den ursprünglichen Beratungen im Verfassungsausschuss teilnehmen konnten, wurde die Ausschussdebatte Anfang März nachgeholt. Vom Nationalratsplenum wurde der Bericht des Verfassungsausschusses einstimmig zur Kenntnis genommen und damit die Behandlung des Volksbegehrens abgeschlossen.
Volksbegehren forderte Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Nehammer
Das Volksbegehren wollte eine Änderung der Verfassung bewirken, um die Einleitung eines Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Karl Nehammer direkt durch die Bevölkerung zu ermöglichen. Nehammer habe nämlich das Vertrauen der Wähler:innen und das Vertrauen in die Demokratie grob missbraucht, argumentieren die Initiator:innen des Volksbegehrens rund um Robert Marschall. Dem Kanzler wird von den Unterzeichner:innen unter anderem die Einführung der COVID-19-Impfpflicht, das Vorgehen der Polizei "gegen das friedliche Volk" bei Corona-Demonstrationen, eine ihrer Meinung nach verfehlte Russland-Politik der Regierung und die Wahlkampfkostenüberschreitung der ÖVP bei der Nationalratswahl 2019 zum Vorwurf gemacht.
ÖVP vermisst Respekt vor einem Instrument der direkten Demokratie
Dem Instrument als Ausdruck der lebendigen Demokratie gebühre Respekt, meinte Christian Stocker (ÖVP). Dieser Respekt wäre aus seiner Sicht auch von den Initiator:innen des vorliegenden Initiative einzufordern. Im Unterschied zu anderen Volksbegehren sei das Ziel kein Gesetz, sondern dem aktuellen Bundeskanzler mit teilweise eigenartigen Begründungen das Vertrauen zu versagen. So werde angeführt, dass Nehammer "das Vertrauen Putins verspielt" habe. Das entspreche der Linie der FPÖ, die sich im Parlament immer wieder als einzige Unterstützerin der Politik Putins und als "Partei der Freunde Putins Österreich" erweise. Abstrus sei auch das Argument, dass Nehammer nicht direkt gewählt worden sei, und der Vorwurf der Überschreitung der Wahlkampfkosten. Der Vorwurf sei erstens nicht zutreffend und würde zweitens keine Verfassungsänderung rechtfertigen, sagte Stocker.
Nikolaus Berlakovich (ÖVP) meinte, die FPÖ teile zwar gerne rhetorisch kräftig aus, zeige sich aber selbst sehr "wehleidig", wenn es um sie selbst gehe. Am vorliegenden Volksbegehren kritisierte der Abgeordnete den persönlichen Angriff auf den Bundeskanzler. Er erinnerte daran, dass Nehammer das Amt des Bundeskanzlers mitten in der Corona-Krise übernommen habe. Mit den von ihm mitgetragenen Maßnahmen sei es gelungen, dass Österreich bei der Pandemiebewältigung besser als viele andere Staaten abgeschnitten und die Wirtschaft sich rascher als anderswo erholt habe. Damit seien viele Unternehmenspleiten und der Verlust von Arbeitsplätzen zu vermeiden. Der ÖVP-Abgeordnete wies auf viele Maßnahmen der Bundesregierung hin, mit denen eine deutlich Stärkung der Kaufkraft der Bevölkerung gelungen sei.
SPÖ: Bundesregierung wird bei Wahlen Rechnung für Scheitern erhalten
Das System der repräsentativen Demokratie um Elemente der direkten Demokratie zu ergänzen halte sie für grundsätzlich gut, sagte Selma Yildirim (SPÖ). Auch wenn man am vorliegenden Volksbegehren manches aussetzen könne, etwa mangelndes Verständnis für die repräsentative Demokratie, so bleibe es eine Tatsache, dass derzeit eine Spaltung der Gesellschaft zu beobachten sei und es viele Ängste und Sorgen in der Bevölkerung gebe, die ernst genommen werden müssten. Die Bundesregierung habe jedenfalls viel Vertrauen verspielt.
Volksbegehren seien ein wichtiger Teil der direkten Demokratie, betonte auch Christian Drobits (SPÖ). Sie seien aber nicht dazu da, um die repräsentative Demokratie auszuhebeln. Diesen Versuch sehe er im diskutierten Volksbegehren. Kritisch sehe er auch, dass unterdessen Volksbegehren für einige Personen zu einem Geschäftsmodell geworden seien. Dagegen müsse man vorgehen. Ungeachtet des fragwürdigen Titels des Volksbegehrens gebe es eine Reihe von Gründen, die derzeitige Bundesregierung als gescheitert zu betrachten.
Muna Duzdar (SPÖ) kritisierte ebenfalls die fragwürdige Begründungen des Volksbegehrens. Die Tatsache, dass viele Menschen Zukunftsängste hätten, sei aber nicht zu leugnen. Nehammer habe bereits als Innenminister viele schwerwiegende Fehler gemacht, etwa bei der Terrorismusbekämpfung. Er habe auch als Bundeskanzler Ansehen und Vertrauen verspielt. Die Absetzung von Nehammer werde jedenfalls nicht durch ein Volksbegehren, sondern mit den kommenden Wahlen erfolgen.
Dieser Aussage schloss sich Christian Oxonitsch (SPÖ) an. Die Liste des Versagens des Bundeskanzlers sei lang, etwa in der Gesundheits- und Bildungspolitik, das sei mehrfach festgestellt worden.
FPÖ: Viele Gründe, den Rücktritt Nehammers zu fordern
Dagmar Belakowitsch (FPÖ) erinnerte Abgeordneten Stocker daran, dass die ÖVP bereits nach einem Gerichtsurteil Aussagen über die Freiheitlichen, diese hätten Geld aus Russland erhalten, widerrufen haben müsse. Für die Forderung "Nehammer muss weg" gebe es eine Reihe von Gründen. Das beginne mit seiner Zeit als Innenminister, die durch eine unverhältnismäßig harte Durchsetzung von COVID-19-Maßnahmen, Intransparenz und Falschmeldungen gekennzeichnet gewesen sei. Auch als Bundeskanzler habe er fragwürdige Maßnahmen weitergeführt. Zudem trage er die politische Verantwortung für den islamistischen Terroranschlag in Wien sowie für Massenzuwanderung und hohe illegale Migration seit 2020. Nehammer sei bereits seit fünf Jahren rücktrittsreif.
Michael Schnedlitz (FPÖ) warf der Bundesregierung vor, nach dem "Corona-Wahnsinn" zur "Kriegstreiberei" übergegangen zu sein. Die FPÖ sei keine Partei der "Putin-Versteher", betonte er, sie verstehe aber nicht, warum die österreichische Bevölkerung die Kosten für sinnlose Sanktionen tragen solle. Die starke Unterstützung für das Volksbegehren zeige, wie viele Menschen sich angesichts der vielen Probleme einen "Befreiungsschlag" erhoffen würden. Dieser Befreiungsschlag werde mit den kommenden Wahlen kommen.
Susanne Fürst (FPÖ) erinnerte daran, dass viele ÖVP-Regierungsmitglieder große Nähe zu Russland gezeigt hätten. Der Vorwurf an die FPÖ. Auch wenn der Titel des Volksbegehrens nicht so sachlich wie andere gewählt sei, so sei das Anliegen völlig berechtigt. Fürst illustrierte ihren Vorwurf des Versagens in der Migrationsfrage mit einem Abkommen mit Ägypten. Entgegen dem Eindruck, den Nehammer vermittle, seien von mehr als 7 Mr. € an europäischem Steuergeld, die Ägypten erhalte, nur 200 Mio. € tatsächlich für den Kampf gegen illegale Migration vorgesehen. Ähnliches sei bei einem Abkommen der EU mit Tunesien passiert.
Grüne: Initiator:innen versuchten, Unterzeichner:innen in die Irre zu führen
Die Entscheidung, wer Bundeskanzler:in werde, falle über Wahlen und mit dem Auftrag an die stärkste Partei zur Regierungsbildung, hielt Agnes Sirkka Prammer (Grüne) fest. Es sei zwar legitim, hier eine Änderung in Richtung einer Direktwahl zu fordern. Das hätte aber dann auch im Volksbegehren zum Ausdruck kommen müssen. Sie habe aber "ein Problem damit", dass die Initiator:innen den Bürger:innen suggeriert hätten, sie könnten mit der Unterzeichnung eine Abwahl des Kanzlers erreichen. In einem Volksbegehren etwas Falsches zu suggerieren halte sie jedenfalls für unehrlich.
Michel Reimon (Grüne) forderte die FPÖ auf, endlich die Kündigung des Freundschaftsvertrags mit der politischen Partei "Einiges Russland", der Partei Wladimir Putins vorzulegen. Solange diese Aufkündigung des Vertrags nicht vorliege, sei er aufrecht und damit sei die Freiheitliche Partei die einzige Partei im Hohen Haus, die den Angriffskrieg einer ausländischen Macht explizit unterstütze und als deren Agentin handle.
In Antwort auf den Vorwurf des Abgeordneten Reimon forderte FPÖ-Abgeordnete Belakowitsch in einer Meldung zur Geschäftsordnung einen Ordnungsruf. Zweite Nationalratspräsidentin kündigte an, das Thema in die Präsidiale des Nationalrats mitzunehmen.
NEOS: Begründungen des Volksbegehrens fragwürdig, aber Bundesregierung hat Vertrauen verspielt
Ein Volksbegehren könne durchaus aus Ausdruck einer Unzufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung sein, sagte Nikolaus Scherak (NEOS). Problematisch seien am vorliegenden Volksbegehren einige verfassungsrechtliche Begründungen, die nicht nachvollziehbar seien. Jedenfalls gebe es für ihn "Schlimmeres im Lebens, als das Vertrauen von Wladimir Putin nicht mehr zu haben", meinte der Abgeordnete. Ungeachtet fehle auch ihm das Vertrauen in die Arbeit von Bundeskanzler Nehammer. Mangelhaft sei sie etwa, wenn es um die Inflationsbekämpfung oder die Umsetzung des Versprechens einer Senkung der Steuer- und Abgabenquote gehe. (Fortsetzung Nationalrat) sox
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