Vizekanzler Kogler: „Niemals vergessen – Müssen Orte und Täter klar benennen, um Gedenken zu ermöglichen!“

Vor 80 Jahren, zum Jahreswechsel 1943/1944, bezog die Wiener Wehrmachtsjustiz den Standort Hohenstaufengasse 3 in der Wiener Innenstadt. Bis zur Befreiung Wiens im April 1945 machten die militärischen Verfolgungsbehörden des NS-Regimes von hier aus Jagd auf all jene Menschen – Männer und Frauen –, die nicht länger dem Krieg dienen wollten oder die Soldaten bei ihren Entziehungshandlungen unterstützten. Mit einer neu angebrachten Gedenktafel erinnert das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS) an diese Geschichte. Mit einem ergänzenden Forschungs- und Buchprojekt lässt es noch offene Fragestellungen aufarbeiten.

Langer Weg der Rehabilitierung
Deserteure aus der Wehrmacht und alle, die sich dem Dienst im Vernichtungskrieg entzogen, galten bald nach 1945 oftmals als Feiglinge oder Verräter. Dieses Bild änderte sich auch nicht wesentlich, als die Verbrechen der Wehrmacht und die Involvierung vieler Österreicher:innen breit diskutiert wurden. Ein Forschungsprojekt des Wissenschaftsministeriums in den Jahren 2001–2003 lieferte erstmals empirische Antworten auf die Frage nach den Schicksalen österreichischer Wehrmachtsdeserteure. Nicht zuletzt aufgrund der unermüdlichen Arbeit des Personenkomitees „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“ und dessen Ehrenobmannes Richard Wadani erfolgten 2005 die Beschlussfassung des Anerkennungsgesetzes, 2009 die Aufhebung aller wehrmachtgerichtlichen Urteile durch die Verabschiedung des Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetzes und 2014 die Errichtung des Denkmals für die Verfolgten der NS-Militärjustiz am Ballhausplatz durch die Stadt Wien.

Markierung der Täterorte
Das Denkmal am Ballhausplatz ehrt die Verfolgten der NS-Militärjustiz, wichtig ist aber auch die Auseinandersetzung mit den konkreten Orten der Verfolgung in Wien, den Gerichten, Folterkammern, Gefängnissen und Hinrichtungsstätten. Mit dieser Gedenktafel am Gebäude Hohenstaufengasse 3 wird eine der unbarmherzigsten Verfolgungsinstitutionen der Wehrmacht in Wien endlich öffentlich gekennzeichnet. Bereits vergangenes Jahr wurde am Regierungsgebäude am Stubenring, dem ehemaligen Kriegsministerium, eine erste Gedenktafel montiert. „Damit sind uns ganz wesentliche Schritte gelungen, um das Netzwerk der wehrmachtgerichtlichen Verfolgung in Wien sichtbar zu machen“, betont der Historiker Mathias Lichtenwagner, Autor eines Standardwerks zu dem Thema. Er wünscht sich die Aufarbeitung und Markierung weiterer Täterorte, die nunmehr als Amtsgebäude der Republik dienen.

Wagner statt Wehrmacht
Das Amtsgebäude Hohenstaufengasse 3 taucht in zahlreichen Stadtführern auf – meist als Frühwerk Otto Wagners, aber nur sehr selten als Gericht der Wehrmacht. Diese Praxis illustriert den jahrzehntelangen selektiven Umgang in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, auch in Politik und Verwaltung. Das BMKÖS stellt sich mit dieser Gedenktafel diesem Umstand. Dadurch werden wir nicht aufhören, weiter den architektonischen Wert des Gebäudes zu betonen, wir werden aber auch endlich auf den Zwang, die Verfolgung, das Leid und den Tod hinweisen können, die in den letzten Weltkriegsjahren von hier ausgingen.

Vizekanzler Werner Kogler:

„Wir erinnern damit an jene Menschen, die sich während des nationalsozialistischen Regimes dem militärischen Gehorsam in der Deutschen Wehrmacht widersetzt haben. Wir gedenken jener Menschen, die deshalb verfolgt und oft auch hingerichtet wurden.Viel zu lange hat die Republik Österreich – Eigentümerin dieses Gebäudes – diesen spezifischen Teil von dessen wechselvoller Geschichte ignoriert. Die architektonischen Besonderheiten des Gebäudes wurden betont, die mörderischen Urteile, die hier gefällt wurden, wurden jedoch verschwiegen. Die neue Gedenktafel soll dies nun ändern. Die Macht eines Nein, in welcher Form auch immer, wie der Mut der Menschen, die dieses Nein zum Ausdruck gebracht haben, sollen uns dadurch ein Vorbild sein und dürfen nicht vergessen werden. Niemals wieder!“

Thomas Geldmacher-Musiol, Obmann des Personenkomitees „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“:

„In diesem Haus widmete sich Oberstabsrichter Karl Everts seiner mörderischen Passion: der Verfolgung sogenannter Selbstverstümmler – Menschen also, die sich lieber Arme und Beine brechen ließen, als weiter bei dem Angriffs- und Vernichtungskrieg der Wehrmacht mitzumachen. Everts und seine Richterkollegen verhängten hier Dutzende Todesurteile und Zuchthausstrafen. Doch Österreich hat die Opfer dieser Terrorjustiz und deren Angehörige nach 1945 nicht gut behandelt. Ehemalige Deserteure und andere ungehorsame Soldaten wurden als ‚Feiglinge‘ und ‚Kameradenschweine‘ verhöhnt, und die Republik versagte den betroffenen Männern und Frauen teilweise bis in die 2000er Jahre Entschädigungszahlungen und Sozialleistungen, etwa nach dem Opferfürsorgegesetz. Erfreulicherweise hat sich diese Praxis in den letzten 20 Jahren geändert, und die Enthüllung dieser Gedenktafel ist ein weiteres, sehr positives Zeichen dafür, dass die Republik ihre erinnerungspolitische Verantwortung wahrnimmt.“

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