Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen in Österreich verdreifacht

Im Vorfeld des Welt-Suizid-Präventionstags der WHO (10.9.) lud die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) heute zu einer online Pressekonferenz ein, um aktuelle Entwicklungen und Zahlen zur Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen in Österreich zu präsentieren. Zahlen aus dem klinischen Bereich belegen seit 2018 eine Steigerung der Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen in Österreich um das Dreifache. Neben Daten aus der Praxis präsentierten die Expert*innen auch evidenzbasierte, wirksame Präventionsmodelle und damit verbunden konkrete Forderungen an die Politik nach einer dringenden Umsetzung von Präventionsmaßnahmen, um der Suizidalität von Kindern und Jugendlichen rasch entgegenzuwirken.

Zahl der Akutvorstellungen von Jugendlichen nach Suizidversuchen an Kliniken verdreifacht

In Österreich sterben pro Jahr etwa 1.100 Menschen durch Suizid, etwa 25-30 davon in der Altersgruppe der unter 18-Jährigen. Suizid ist die zweithäufigste Todesursache in der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. „In Österreich wurde in den vergangenen Jahren im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Kliniken und auch in niedergelassenen Bereich eine deutliche Zunahme an Kindern- und Jugendlichen gesehen, die sich mit Suizidgedanken oder nach einem Suizidversuch vorgestellt haben“, sagt Univ.Prof. Dr. Paul Plener, Klinikvorstand an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien und Präsident der ÖGKJP.

Während die Zahl der Akutvorstellungen an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien/AKH Wien 2022 mit 1.260 vergleichbar mit der Zahl der Vorstellungen im Jahr 2019 (1.277) geblieben ist, hat sich die Zahl der Jugendlichen, die sich nach Suizidversuch vorgestellt haben von 67 (2019) auf 200 (2022) gesteigert. Suizidgedanken finden sich bei mehr als der Hälfte (53%) der Jugendlichen, die sich in eine Akutvorstellung begeben.

Am LKH Süd II, Graz wurden 103 Kinder und Jugendliche im Jahr 2018 aufgrund von einer suizidalen Krise aufgenommen, 2022 waren es schon 310 Patient*innen, berichtete Univ.Prof.in Dr.in Isabel Böge, Abteilungsleiterin an der Klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin der MedUni Graz sowie Primaria der Abteilung für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am LKH Süd und Vizepräsidentin der ÖGKJP, im Rahmen der Pressekonferenz.

Akute Belastungen und psychische Krisen nehmen zu

Dabei nahmen, laut Böge, akute Belastungen und psychische Krisen als zugrundeliegende Diagnosen deutlich zu, während die Depression gleichbleibend hoch vorhanden war. Deutlich ist auch, dass Suizidalität erst ab einem gewissen Alter eine Rolle zu spielen scheint. Kinder entwickeln erst ab dem Alter von 9 bis 10 Jahren ein Todeskonzept, so dass Suizidalität in der Regel selten vor dem 11. Lebensjahr zu finden ist.

Während Suizidalität 2019 eher noch bei 13-15-Jährige im Rahmen von impulsiven Reaktionen auftrat, so tritt Suizidalität inzwischen mehr auf der Basis von komplexerer Psychopathologie bei Belastungsstörungen, depressiven Verstimmungen, Persönlichkeitsstörungen u.a. auf, was sich am LKH Süd in einer Altersverschiebung der von Suizidalität betroffenen Jugendlichen auf 14-17-Jährige abbildet. „Die Wiederaufnahmerate aufgrund von wiederkehrenden Suizidgedanken nimmt zudem deutlich zu. Das kann auf der einen Seite positiv gewertet werden, die Jugendlichen kommen und holen sich Hilfe. Andererseits würde es auch die Interpretation zulassen, dass aufgrund des Aufnahmeandrangs im LKH Süd II nur Kriseninterventionen von 3-5 Tagen angeboten werden können, eine nachhaltige Versorgung Wartezeit hat“, so Böge.

Anstieg von Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen auch in der ambulanten Krisenintervention

Auch in der ambulanten Krisenintervention wird seit dem Jahr 2019 ein Anstieg der Fälle von Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen um 30% (2021 sogar um 53 %) verzeichnet. 

Besonders erschreckend war für mich die Erfahrung, dass immer jüngere Kinder, auch schon im Volksschul- und eines sogar im Kindergartenalter über Suizidgedanken und teilweise konkrete Suizidpläne gesprochen haben. Sie waren einfach in einer verzweifelten Lage und wollten so nicht weiterleben,“ sagt Dr.in Ulrike Altendorfer-Kling, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Generalsekretärin der ÖGKJP. Altendorfer-Kling, die die Kinder-Jugend-Seelenhilfe der Pro Mente Salzburg leitet, berichtet von einer Häufung an erfolgreichen Suiziden Jugendlicher im Zeitraum Oktober 2022 bis März 2023 in der Stadt Salzburg. Bei der Kids-Line (Telefonseelsorge für Kinder und Jugendliche) gab es mehr als eine Verdreifachung der Chatanfragen und Telefonate seit der Covid-19 Pandemie (Mai 2019: 959 Chats  Mai 2023: mehr als 4000 Chats; Mai 2019: 9000 Telefonate, Mai 2023: 17233 Telefonate). „Ein Suizid bringt das gesamte Umfeld ins Wanken, Mitschüler*innen, Lehrer*innen, Eltern, alle sind tief betroffen und hilflos. An den Schulen gibt es wenig Wissen und Information über Präventions- und Hilfsangebote“, so Altendorfer-Kling. 

Jugendalter hat für Suizidprävention besondere Relevanz: Präventionsprogramme dringend umsetzen

Das Jugendalter ist jene Lebensphase, in der es häufig zum ersten Auftreten von Suizidgedanken und auch Suizidversuchen kommt. Stattgefundene Suizidversuche stellen einen der Hauptrisikofaktoren für spätere Suizide dar. Das Jugendalter ist daher eine Zeitspanne, die für den Bereich der Suizidprävention besondere Relevanz besitzt“, erklärt Plener.

Die gestiegenen Zahlen an Klinikvorstellungen nach Suizidversuchen machen deutlich, dass die Bemühungen im Rahmen der Suizidprävention in Österreich drastisch und schnell erhöht werden müssen. „Suizidpräventionsangebote sind dringend erforderlich, um dem aktuell vorherrschenden Trend von zunehmender Suizidalität unter psychisch beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken und dort präventiv tätig zu sein, wo es nötig ist, im Alltag, in der Schule, in der Gruppe der Gleichaltrigen“, appelliert Böge.

Die Expert*innen der ÖGKJP fordern daher:

  • Bessere Versorgung psychischer Erkrankungen durch frei zugängliche (niederschwellige, kassenfinanzierte und flächendeckende) kinder- und jugendpsychiatrisch-fachärztliche, psychologische und psychotherapeutische Angebote
  • Schulische Suizidprävention basierend auf evidenzbasierten und bereits vorhandenen Modellen wie dem Youth Aware of Mental Health Programm[1]
  • Programme zur Suizidprävention an Kliniken (nach Entlassung und zur strukturierten Weiterbetreuung nach Suizidversuchen) fördern
  • Barrieremaßnahmen an Suizid Hotspots

Angebote in Akutsituationen (Auswahl):

  • 147 Rat auf Draht für Kinder und Jugendliche
  • Telefonseelsorge 142
  • Ö 3 Kummernummer 116 123 

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