Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 27. Jänner 2023. Von MICHAEL SPRENGER. „Kickls klammheimliche Freude“.

Van der Bellen geht zum Auftakt seiner letzten Amtszeit auf klare Distanz zu Kickl. Die Kritiker der rechtsnationalen FPÖ zeigen sich erfreut. Der FPÖ-Chef empört sich und jubelt derweil still über des Bundespräsidenten Ansage.

Die von Alexander Van der Bellen angelobte Regierung hängt seit Wochen in den Seilen. Noch nie hatte eine Bundesregierung so eine geringe Zustimmung in der Bevölkerung wie die aktuelle. Ob sie sich bis zum Jahr 2024, also bis zum Ende der Legislaturperiode, an der Regierungsbank festklammern kann, ist ungewiss. Aber das Match um das Kanzleramt wurde trotz alledem schon jetzt eröffnet – ausgerechnet vom Bundespräsidenten. Er nützte ein neues und interessantes Interview-Format des ORF, um sich für seine zweite und damit letzte Amtszeit ein klares Profil zu verpassen. Er will kein feiger Präsident sein, klare Kante zeigen: zum Schutz des Klimas, gegen das Gift der Korruption – und ja, wenn es darum geht, Autoritarismus kenntlich zu zeichnen und die FPÖ von der Macht fernzuhalten. 
Van der Bellen formulierte also, was viele Wähler von ihm in seiner ersten Amtszeit schon erwartet hatten. Doch da war er zögerlich, als er etwa längst hätte erkennen müssen, dass der junge ÖVP-Shootingstar Sebastian Kurz kein überzeugter Freund des Parlamentarismus und der liberalen Demokratie ist. Kurz lobte seine Regierungskollegen Viktor Orbán und Benjamin Netanjahu – der Bundespräsident lobte Herbert Kickl zum Innenminister an. Nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos und der daraus folgenden Entlassung Kickls und der Abwahl der Regierung Kurz durch den Nationalrat verhinderte Van der Bellen mit ruhiger Hand eine Staatskrise. Zu den später bekannt gewordenen Korruptionsvorwürfen und Chats in Kurz’ Umfeld hielt er sich zurück. Auch aus Angst vor einer bürgerlichen Gegenwehr seiner Wiederwahl?
Egal, jetzt zeigt er Flagge. Er muss sich auch keiner Wahl mehr stellen. Erste Adressatin seines profilierteren Amtsverständnisses war die FPÖ. Selbst wenn die FPÖ nach der kommenden Wahl stimmenstärks­te Partei  werden sollte, was nicht auszuschließen ist, würde Van der Bellen ihr nicht zwangsläufig einen Regierungsbildungsauftrag geben. Riskiert er so einen Konflikt ohne Not? Denn ohne parlamentarische Mehrheit scheitert Kickls Regierungsbildungsauftrag, findet er die Mehrheit, kann Van der Bellen einen blauen Kanzler nicht verhindern. Auße­r er löst damit eine Staatskrise aus.
Die FPÖ nimmt naturgemäß die Opferrolle ein, wirft Van der Bellen antidemokratisches Verhalten vor. Die Empörung ist gekünstelt. Denn insgeheim freut sich Kickl über Van der Bellens Aussagen. Er kann so seine Handlungsanleitung „Alle sind gegen uns, weil Kickl für euch ist“ fortschreiben. War also Van der Bellens Ansage klug?  Wenn es Kickl nützt, dann nicht. 

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