Maßnahmenvollzugsgesetz: Reform geht nicht weit genug

Der Maßnahmenvollzug gilt seit langem als menschenrechtliche Baustelle. Schon zweimal hat sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Österreich für das System verurteilt. Nach vielen gescheiterten Anläufen soll im März 2023 ein erster Reformschritt in Kraft treten. Aus Sicht von VertretungsNetz wird das Gesetz jedoch unzureichend sein und wenig ändern.

VertretungsNetz vertritt als gerichtlicher Erwachsenenvertreter seit Jahrzehnten Personen, die im Maßnahmenvollzug untergebracht sind und aufgrund ihrer psychischen Erkrankung als zurechnungsunfähig gelten. Die Zahl der nach § 21 Abs 1 StGB untergebrachten Personen hat sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht. Einige Klient:innen haben eine intellektuelle Beeinträchtigung, andere sind demenziell erkrankt und wurden nach aggressiven Vorfällen in Pflegeeinrichtungen (z.B. eine gefährliche Drohung gegen andere Bewohner:innen) eingewiesen.

„Der Maßnahmenvollzug ist ein komplett falsches Setting für diese Personengruppe“, ist Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz, überzeugt. Zweck der Unterbringung ist ja die Behandlung und „Besserung“ im Sinne eines Abbaus der Gefährlichkeit und der Vermeidung einer (neuerlichen) Tatbegehung. „Diese Menschen verstehen aber krankheitsbedingt oft nicht einmal, warum sie untergebracht sind und können die geforderte Compliance nicht leisten. Damit haben sie keinerlei Perspektive auf Entlassung oder auch nur auf Lockerungen, was wiederum zu extrem langen Unterbringungszeiten führt. Einer unserer Klienten ist z.B. seit über 30 Jahren im Maßnahmenvollzug untergebracht und massiv hospitalisiert.“

VertretungsNetz fordert seit langem, Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und demenziellen Erkrankungen von einer Unterbringung auszunehmen. Leider soll der Kreis der Betroffenen laut Gesetzesentwurf explizit unverändert bleiben und „neben psychisch Kranken auch Menschen mit Intelligenzminderung umfassen“. Auch sonst bleibt der Reformentwurf weit hinter den Erwartungen zurück.

Begriffe werden geändert, unverhältnismäßige Einweisungen bleiben

80 % der im Maßnahmenvollzug Untergebrachten sind wegen minderschwerer Delikte wie einer (qualifizierten) gefährlichen Drohung, (versuchtem) Widerstand gegen die Staatsgewalt oder (versuchter) Nötigung eingewiesen. Expert:innen forderten im Vorfeld der Reform, dass Grund für eine Unterbringung nur noch Taten sein sollen, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind („Anlasstat“). Dies wurde jedoch leider nicht umgesetzt. Vielmehr droht wie bisher eine strafrechtliche Unterbringung auch bei Anlasstaten mit lediglich mehr als einem Jahr Strafandrohung. Bei derartigen Delikten werden zukünftig einfach an die „Prognosetat“ besondere Anforderungen gestellt – diese muss sich auf Delikte gegen Leib und Leben oder die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung mit entsprechender Strafdrohung beziehen.

Ein Beispiel: Wenn ein psychisch erkrankter Mensch sich gegen eine Festnahme durch die Polizei gewehrt hat (Widerstand gegen die Staatsgewalt) und ein:e Gutachter:in prognostiziert, dass der:die Betroffene eine Tat wie z.B. eine schwere Körperverletzung in Zukunft begehen könnte, reicht das für eine Unterbringung im Maßnahmenvollzug aus – und zwar auf unbestimmte Zeit. „Wir wissen aber jetzt schon um die mangelnde Qualität vieler Gutachten. Und letztlich kann niemand menschliches Verhalten mit Sicherheit voraussagen, auch Gutachter:innen blicken dabei in eine getrübte Glaskugel. Es ist zu befürchten, dass sie sich wie bisher im Zweifel am allgemeinen Wunsch nach Sicherheit orientieren“, gibt Marlovits zu bedenken.

Im Gesetzesentwurf wird das geplante Vorgehen mit den beschränkten Unterbringungsmöglichkeiten im Rahmen der allgemeinpsychiatrischen Versorgung begründet. Das Problem der steigenden Einweisungszahlen und der fehlenden adäquaten Behandlung wird aber dadurch nicht gelöst werden. Kritisch sieht VertretungsNetz auch, dass weiterhin eine zeitlich unbegrenzte Anhaltung im Maßnahmenvollzug vorgesehen ist.

Vertretung durch Erwachsenenschutzvereine sicherstellen

Im seit Jahren angekündigten, aber immer noch fehlenden 2. Teil des Reformvorhabens, in dem es um die Behandlung und Betreuung für bereits Untergebrachte geht, sollte eine gesetzliche Vertretung für psychisch erkrankte Menschen und damit ein wirksamer Rechtsschutz verankert werden. Wie im Unterbringungsgesetz für psychiatrische Krankenhäuser geregelt, könnten den Betroffenen während der Dauer ihrer Anhaltung Patientenanwält:innen zur Seite gestellt werden. Diese überprüfen etwa, ob die gesetzten Freiheitsbeschränkungen rechtmäßig sind.

Auch nach der Haft bräuchte es wirksamen Rechtsschutz. Nach einer bedingten Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug oder im Rahmen einer „Unterbrechung der Unterbringung“ auf Zeit müssen die Betroffenen meist in sozialtherapeutischen Einrichtungen wohnen. Dort sind sie oft zusätzlichen gerichtlichen Auflagen unterworfen, z.B. müssen sie bestimmte Medikamente einnehmen. Die Einrichtungen verhängen aber mitunter auch von sich aus Freiheitsbeschränkungen, die ihre Grundlage nicht in einer strafrechtlichen Weisung haben (z.B. versperrte Zimmer).

Freiheitsbeschränkungen in Wohn- und Pflegeeinrichtungen dürfen nur im Rahmen des Heimaufenthaltsgesetzes erfolgen und werden von der Bewohnervertretung überprüft. Leider gilt dieser Rechtsschutz sowohl für Entlassungen unter Auflagen als auch für bedingt Entlassene aus dem Maßnahmenvollzug nicht – obwohl sie mitunter in den gleichen Einrichtungen leben wie andere Bewohner:innen mit psychischer Erkrankung und eventuell sogar den gleichen Freiheitsbeschränkungen unterworfen sind. Es gelten also für zwei Menschen, die sich in derselben Einrichtung aufhalten, zwei unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Das ist menschenrechtlich problematisch.

Ressourcen für Prävention, Alternativen und Nachsorge

Eine gelingende Reform steht und fällt letztlich mit der Frage, ob alternative Betreuungsstrukturen geschaffen werden: etwa forensisch-therapeutische Ambulanzen und spezialisierte, kleinstrukturierte Wohneinrichtungen mit fachlich qualifiziertem Personal und fundierten sozialtherapeutischen Konzepten. Davon wird es auch abhängen, ob die zu begrüßende Neuregelung des „vorläufigen Absehens vom Vollzug“, verbunden mit einer obligatorischen amtswegigen Prüfung von Alternativen, in der Praxis gelingt und zu weniger Unterbringungen führen wird.

Während für Jugendliche und junge Erwachsenen im Jugendgerichtsgesetz die Strafdrohung der Anlasstat erhöht werden soll und immerhin das Zugeständnis da ist, dass es nicht Zweck des Strafrechts ist, Versäumnisse im Bereich des Gesundheitswesens auszugleichen, hält man bei der strafrechtlichen Unterbringung Erwachsener an verkrusteten Strukturen fest.

„Auch ein weiterer Ausbau von Großanstalten ist aus unserer Sicht der völlig falsche Weg. Das widerspricht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und der unabdingbaren Forderung nach Deinstitutionalisierung“, so Marlovits. Statt der im Budget dafür veranschlagten hohen Summen sollten mehr Ressourcen in die psychiatrische ambulante und stationäre Versorgung fließen – damit es gar nicht erst zur Unterbringung im Maßnahmenvollzug kommen muss.

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at
(C) Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender. VertretungsNetz

EnergieEnergiequellenInklusionJustizMenschenrechtePolitikRechtSozialesStromUnternehmen
Comments (0)
Add Comment