Die 1926 errichtete Denkmalanlage zur Erinnerung an den von 1897 bis 1910 amtierenden Wiener Bürgermeister Karl Lueger ist heute in der Öffentlichkeit heftig umstritten. Und das nicht ohne Grund: Karl Lueger (1844 -1910) verstand es schon zu Lebzeiten geschickt, einen beispiellosen Kult um seine Person aufzubauen und die Menschen als "Modernisierer und Anwalt der kleinen Leute" in seinen Bann zu ziehen. Mit radikal rassistischer Rhetorik machte er einen neuartigen populistischen Antisemitismus zu (s)einem politischen Programm.
Mit der Installation LUEGER TEMPORÄR erweitern Nicole Six und Paul Petritsch die Diskussion zum Denkmal um weitere Spuren Luegers in der Stadt: In Wien auffindbare Lueger gewidmete Erinnerungszeichen – von Büsten bis zu Tafeln – wurden von ihnen vermessen und dokumentiert. Sechzehn dieser Artefakte wurden in Form ihrer Umrisslinien in Originalgröße auf dem Lueger-Platz versammelt. Hier lagern sie nun als temporäres öffentliches Archiv, als verdichteter Erinnerungsspeicher, der zeigt, wie Karl Lueger sich vielfach und auf unterschiedlichen Ebenen ins Gedächtnis der Stadt Wien eingeschrieben hat.
Der Öffentlichkeit wird ein „diskursives Schaulager“ des Lueger-Gedenkens in Wien zur Verfügung gestellt, das den Prozess des Ordnens und Strukturierens als notwendige Basis von Meinungsbildung veranschaulicht. Die Künstler*innen laden damit zu einem öffentlichen Reflexionsprozess ein, der über den Platz hinausgedacht werden und Ausgangspunkt für diverse performative Interventionen sein kann. Sie verbinden die spezifischen Fragen, die das Denkmal aufwirft, mit der übergeordneten Frage, wie wir heute mit den dunklen Seiten unserer Geschichte umgehen wollen.
Die Installation, eine Holzkonstruktion, hat folgende Maße: 39 m Länge, 11 m Höhe und 5 m Breite.
Kaup-Hasler: Öffnet sowohl tatsächlichen als auch gedanklichen Raum der Auseinandersetzung
„Ich freue mich, dass ‚LUEGER TEMPORÄR‘, diese vielschichtige Intervention von Nicole Six und Paul Petritsch, nun in voller Größe erlebt werden kann. Das temporäre Kunstwerk ist ein auffälliges, weithin sichtbares Zeichen, das sowohl einen tatsächlichen als auch einen gedanklichen Raum öffnet, in dem differenzierendes Nachdenken über den politischen Populismus der Vergangenheit und Gegenwart möglich ist“, betont Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler anlässlich der Eröffnung der Installation.
Markus Figl, der Bezirksvorsteher der Inneren Stadt, ergänzt: „Die Installation ‚LUEGER TEMPORÄR‘ setzt ein sichtbares Zeichen für den Willen zum öffentlichen Dialog. In den letzten Jahren gab es intensive Debatten zum Umgang mit dem Lueger-Denkmal mit Forderungen wie der Entfernung des Denkmals oder das Entstellen der Statue. Ich hingegen bin gegen die Entfernung von Geschichte aus dem öffentlichen Raum. Mit der temporären künstlerischen Installation wird eine differenzierte Betrachtung der Persönlichkeit von Dr. Karl Lueger ermöglicht, was auch notwendig ist, weil er sich auf unterschiedliche Art und Weise in das Gedächtnis der Stadt eingeschrieben hat.“
„Jede Stadt hat ein Gedächtnis. Öffentliche Kunst nimmt aktiv oder passiv Bezug auf dieses Gedächtnis, schreibt sich mit ihrem widerständigen Potenzial in dieses ein oder entwickelt ästhetische Angebote für dessen Gegenwart und Zukunft. Mit ihrer temporären Intervention beim Lueger-Denkmal verbinden Nicole Six und Paul Petritsch die spezifischen Fragen, die das Lueger-Denkmal aufwirft, mit den übergeordneten Fragen zur Erinnerungskultur: Sie stellen zur Diskussion, wie wir heute mit den historisch belasteten Bestandteilen unserer Geschichte umgehen sollen,“ so Cornelia Offergeld, kuratorische Leitung KÖR, und Martina Taig, Geschäftsführung KÖR.
Die Künstler*innen Nicole Six und Paul Petritsch
Nicole Six und Paul Petritsch realisieren seit 1997 gemeinsam Filme, Fotografien, Displays, Künstler*innenbücher sowie orts- und kontextspezifische Installationen und Projekte im öffentlichen Raum. Sie erforschen die Grenzen unseres Daseins und unserer Wahrnehmung mit Expeditionen in den Alltag, durch Ozeane, Polarregionen, Betonwüsten wie auch Mondlandschaften. Ihre Eingriffe sind experimentelle Versuchsanordnungen, mit denen sie den Raum neu ordnen, indem sie ästhetische mit politischen Dimensionen verbinden.
In diesem Zusammenhang waren Arbeiten wie „Die innere Grenze/Notranja meja“ (2008) und „Das Denkmal/Spomenik“ (2015) in Kärnten als Gegenmonumente sowie das partizipative Projekt „Die Stadt und das gute Leben“ (2020) in der Form von einer Vermessung des Raumes und der Landschaft angelegt.
Die Vorgeschichte
Im Mai 2021 hat die Stadt Wien nach anhaltender, öffentlich geführter Diskussion zum Lueger-Denkmal einen Round Table im Rathaus abgehalten, an dem mehr als 40 Expert*innen aus Kunst, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft teilgenommen haben. Der Austausch so unterschiedlicher Stimmen und die offene und respektvolle Diskussion haben gezeigt, dass das Lueger-Denkmal nicht länger unkommentiert bleiben kann.
Diese Diskussion lieferte auch die Grundlage für die Entscheidung der Stadt Wien, das Denkmal permanent künstlerisch zu kontextualisieren. Bis zur Realisierung eines permanenten Denkmals wird die temporäre Installation LUEGER TEMPORÄR auf das Denkmal Karl Lueger reagieren.
Im Oktober fand die konstituierende Sitzung der Jury des geladenen Wettbewerbs für die permanente künstlerische Kontextualisierung des Denkmals statt, der von KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien in Kooperation mit der MA 7 durchgeführt wird.
Weitere Informationen unter www.koer.or.at
KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien
Die Aufgabe von KÖR Kunst im öffentlichen Raum Wien ist die Aktivierung des öffentlichen Raums der Stadt mit permanenten und temporären künstlerischen Projekten.
Die Idee ist, die Identität der Stadt und einzelner Stadtteile mit zeitgenössischer Kunst zu stärken sowie die Funktion des öffentlichen Raums als Agora – als Ort der gesellschaftspolitischen und kulturellen Debatte – zu beleben.
Kunst im öffentlichen Raum kann dabei gewisse Funktionen und Inhalte übernehmen: z.B. die Auseinandersetzung mit Kunst im Allgemeinen fördern, Aufmerksamkeit auf aktuelle Themen und Fragestellungen des öffentlichen Interesses lenken, Denkanstöße geben und zu Diskussionen und Dialogen anregen und auch strategisch stadtplanerisch mitwirken. Kunst im öffentlichen Raum kann im Rahmen von ausgewählten Erinnerungskultur-Projekten auch eine „Denkmal“-Funktion übernehmen.
KÖR wickelt hierfür künstlerische Projekte ab, erteilt Aufträge an KünstlerInnen, lobt künstlerische Wettbewerbe für Projekte im öffentlichen Raum aus, vergibt Förderungen an KünstlerInnen bzw. Projektträger und setzt damit verbundene Tätigkeiten (Symposien, Publikationen, Vermittlungsprogramme, u.a.) um.
Bilder:
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