Wien (PK) – „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ gehört zu den bekanntesten Äußerungen von Thomas Hobbes und wird oft als Beispiel für die misanthropische Grundausrichtung des Staatstheoretikers und Philosophen herangezogen. Dass er diesem Satz jedoch dessen Antithese – „der Mensch ist des Menschen Gott“ – voranstellte, ist schon weit weniger geläufig. Diese und viele weitere Differenzierungen und dialektische Positionierungen in Hobbes‘ Werk waren Thema beim heurigen Literaturfestival „Österreich liest. Treffpunkt Bibliothek“ mit dem Universitätsprofessor und ehemaligen Abgeordneten Alfred J. Noll und dem Leiter der Abteilung Parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit in der Parlamentsdirektion Christoph Konrath. Auf Einladung von Parlamentsdirektor Harald Dossi sprachen sie am 19. Oktober 2021 im Lesesaal der Parlamentsbibliothek über die Entstehung seines Werkes aus den sozialen und politischen Verhältnissen seiner Zeit und die Bedeutung seines Denkens für Demokratie und Politik heute.
Hobbes als Vordenker der Gleichheit aller Menschen
Anlässlich des 370. Geburtstags von Hobbes‘ Hauptwerk „Leviathan“ übersetzte Noll seine bisher noch nicht im Deutschen erschienen „Überlegungen zur Reputation, zur Loyalität, zu den Umgangsformen und zur Religion“, worin er Stellung zu seinen grundlegenden Gedanken zur Staatstheorie bezieht. Daran anknüpfend wurden im Gespräch mit Christoph Konrath deren philosophische Prämissen, illustriert. So ist Hobbes, der nach Macchiavelli als Begründer der wissenschaftlichen Behandlung von Politik gilt, vor allem als Verfechter eines absoluten Souveräns bekannt. Gleichzeitig postulierte er jedoch als erster Staatstheoretiker die Gleichheit aller Menschen und hob sich damit vom zeitgenössischen aristotelischen Menschenbild, das eine naturwüchsige Ungleichheit beinhaltet, vehement ab.
Alfred J. Noll illustrierte die Genese des Denkens von Thomas Hobbes vor dem Hintergrund der Verwerfungen der Umbruchszeit des 17. Jahrhunderts, als das Mittelalter noch nicht vorbei und die Neuzeit noch nicht angebrochen war. Die damaligen geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklungen wie der Machtkampf zwischen einem kapitalistisch werdenden englischen Adel und dem Monarchen, das Ausklingen des Feudalismus und der Verlust der Oberhoheit der Theologie über alles Geistige führten zu heftigen Konflikten in denen sich die VertreterInnen alter und neuer Werte mit Totalitätsansprüchen bis in den Bürgerkrieg bekämpften. Diese Kämpfe schlugen sich in Hobbes Menschenbild dahingehend nieder, dass er den „Krieg aller gegen alle“ als Naturzustand und die Selbstbehauptung als menschlichen Primärtrieb identifizierte. Aus der Annahme dieses allen gemeinsamen Antriebes resultierte sowohl seine egalitäre Anthropologie als auch seine Erkenntnis der Notwendigkeit eines Souveräns als übergeordnete Instanz („der Leviathan“), der diese Triebe in einer für alle lebbaren Übereinkunft einzuhegen vermag. Nur in diesem Friedenszustand könne der Mensch seiner ebenso angeborenen Vernunftbegabung folgen und müsse nicht im blanken Existenzkampf verweilen.
Vom Gesellschaftsvertrag zur Rechtsstaatlichkeit
Zu den weitgehenden Rechten dieses notwendigen Souveräns gesellen sich jedoch dementsprechende Pflichten, was in der modernen Hobbes-Rezeption oftmals unterschlagen werde, wie Noll ausführte. So formulierte Hobbes im Leviathan unter anderem, dass es keine Willkürherrschaft geben dürfe und die BürgerInnen die Gesetze verstehen und nachvollziehen können müssen. Das von ihm erdachte Gesellschaftsmodell basiert im Kern auf einem Vertrag aller mit allen, in dem sie sich im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens verpflichten, auf die Ausübung ihrer natürlichen Rechte (Selbsterhaltung mit allen Mitteln) zu verzichten und ihr Schicksal quasi dem Souverän übertragen, der nicht Vertragspartner ist. Dabei nahm Hobbes bereits den Instanzenzug vorweg und kannte auch das Widerstandsrecht, das speziell dann in Kraft trete, wenn der Souverän das Leben seiner UntertanInnen bedrohe. Auch hätte er nach Hobbes für genügend Arbeit für die BürgerInnen zu sorgen, womit er bereits weit vor den SozialistInnen das Recht auf Arbeit formulierte. Der Souverän erscheine bei Hobbes also nicht als reiner Gewaltherrscher, sondern müsse durch aktive Handlungen das öffentliche Wohl befördern.
So nahm Hobbes bereits viele Prämissen der modernen Staatsphilosophie vorweg und kann als Begründer der wissenschaftlichen Behandlung von Politik insgesamt gesehen werden. Seine Erfahrungen mit den religiös grundierten blutigen Konflikten seiner Zeit führten ihn auch zur Erkenntnis, dass Kirchen ebenfalls unter die Oberhoheit des Staates gestellt werden müssten. Im Privaten dürfe jeder seinem Glauben nachkommen, doch im öffentlichen Leben habe das Primat der staatlichen Direktive zu gelten. Damit wurde auch der Gedanke der staatlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften vorweggenommen.
Grundlagenfragen in Zeiten der Entpolitisierung der Politik
Alfred J. Noll erörterte auch, wie die originären Gedanken von Thomas Hobbes bis heute unser politisches Denken prägen. Die These, dass die bürgerliche Gesellschaft, um in Frieden existieren zu können, den Staat als übergeordnete, aus den unmittelbaren Angelegenheiten der BürgerInnnen herausgehobene Instanz benötigt, um für alle verbindliche Regeln zu schaffen und Entscheidungen zu treffen, gehe direkt auf ihn zurück. Sie wirke genauso in der heutigen parlamentarischen Demokratie, nur, dass der Souverän heute durch Wahlen legitimiert werde. Laut Noll setze sich das daraus entstandene Spannungsverhältnis bis heute fort, wenn man sich aktuelle Entwicklungen rund um Bewegungen von ImpfgegnerInnen oder StaatsverweigerInnen ansehe, welche den von Hobbes beschriebenen Gesellschaftsvertrag teilweise aufkündigen möchten.
Zuletzt sprach Christoph Konrath Nolls Vergangenheit als Abgeordneter im Nationalrat an und fragte nach seinen dortigen Erfahrungen im Zusammenhang mit Hobbes Überlegungen. Noll sprach hier von einer „ethnologischen Exkursion“ und stellte ein ernüchterndes Zeugnis aus, was die Behandlung von solchen grundsätzlichen Fragestellungen im politischen Betrieb betrifft. Themen, an denen Menschen wie Hobbes ansetzten, seien im Nationalrat in keiner Weise präsent. Die Summe der Abgeordneten sei für ihn die „Inkarnation des unpolitischen Denkens“, wobei anstatt grundsätzlicher Politik lediglich parteipolitisches Hickhack für die MedienrezipientInnen betrieben werde. Wer solche Fragen anspreche, würde sich lächerlich machen, da Diskussionen dieser Art nicht als Teil des Jobs wahrgenommen würden. Politische Willensbildung werde verkürzt auf „tagespolitische Akklamationen“, was mit einem Politik-Begriff wie jenem von Hobbes oder Perikles nichts mehr zu tun hätte. Den Nationalrat in seiner heutigen Verfasstheit dürfe es, dieser Tradition von Staatsphilosophen nachgehend, überhaupt nicht geben, so Noll.
Auf Konraths Frage, ob mehr Grundsatzdiskussionen diesen Entwicklungen entgegenwirken könnten, verwies Noll auf anstehende große Problemlagen, die uns diese Diskussionen ohnehin aufzwängen. Ein Herantreten an demokratische Institutionen mit innovativen Ansätzen um mehr Partizipationsmöglichkeiten für die BürgerInnen zu schaffen, könne die Entstehung eines antiparlamentarischen Ressentiments in der Bevölkerung verhindern. Demokratie müsse „lokalisiert“ und den Menschen unmittelbar dort, wo sie leben und arbeiten, zugeführt werden, damit sie die Politik aktiv erleben und sich nicht bloß als ihr Objekt begreifen, plädierte Noll. Diese unmittelbaren Angelegenheiten mit großen politischen Fragen zusammenzuführen wäre das „große Kunststück“, das die Parteien zu vollführen hätten, worin sie jedoch gegenwärtig versagten.
Informationen zur Übersetzung Alfred J. Nolls von Thomas Hobbes‘ „Überlegungen zur Reputation, zur Loyalität, zu den Umgangsformen und zur Religion“ finden Sie unter diesem Link. Das gesamte Programm des Literaturfestivals „Österreich liest. Treffpunkt Bibliothek“ ist unter www.oesterreichliest.at abrufbar.(Schluss) wit
HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments. Die Veranstaltung wurde via Livestream übertragen und ist auf der Website des Parlaments als Video-on-Demand in der Mediathek verfügbar.
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