Leitartikel „Wenn rote Nelken verwelken“ vom 1. Mai 2021 von Michael Sprenger

Innsbruck (OTS) – Seit Jahren befinden sich Sozialdemokraten auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sie hören zwar die Glocken, wissen aber nicht so recht, wo sie hängen. Eine Erklärung.

Nach der großen Finanzkrise, als der Schlitten des weltweiten Finanzkapitalismus brutal an die Wand gefahren ist, glaubten die Sozialdemokraten, dass das Pendel wieder in ihre Richtung ausschlagen könnte. Doch außer dem Einsetzen einer verspäteten Trauerarbeit über die Austeritätspolitik, die im Süden Europas in weiten Teilen der Bevölkerung für Armut gesorgt hatte, rührte sich wenig bei den Sozialdemokraten. Und bevor dann die Pandemie in sozialen Verwerfungen münden sollte, verabschiedeten sich Konservative über Nacht von ihrer Losung „weniger Staat, mehr privat“. Die Machtverhältnisse blieben trotz milliardenschwerer Krisen stabil. In Frankreich ist die Sozialdemokratie in einer existenziellen Krise, in Italien zerstritten, in Deutschland muss sie das anstehende Match zwischen Union und Grünen um das Kanzleramt schier tatenlos beobachten. Und in Österreich? Da ergibt sich die einst so stolze Partei in Wehklagen und Erinnerung an die Ära Bruno Kreisky. Hierzulande verharrte die frühere Kanzlerpartei jahrelang im Verwaltungsmodus. Die Förderung des politischen Nachwuchses wurde gröblich vernachlässigt, in vielen Bundesländern herrscht sozialdemokratische Ödnis vor und, dies mag wohl ein weiterer zentraler Erklärungspunkt sein: Die SPÖ hat es verabsäumt, ihrem Ursprungsideal entsprechend die Zukunft immer weiter zu gestalten. Kaum einer der Ihren brennt für seine Ideale. Und wenn er es tut, wird er kaltgestellt.
Am 1. Mai, am roten Festtag mit Nelke, bleibt vorerst nur eine bittere Erkenntnis: Ohne fehlende Leidenschaft und klare Kante gewinnt man keine Wahlen. So bleibt der SPÖ nur die Hoffnung, dass die zuletzt fehleranfällige ÖVP weiter an Terrain verliert – und die nächste Wahl verliert.

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