Wien (PK) – Einstimmig forderte heute der EU-Hauptausschuss des Nationalrats von der Bundesregierung, auf EU-Ebene klar für eine Verurteilung der türkischen Militäroffensive in den Kurdengebieten Nordsyriens einzutreten. Nötig seien dabei Maßnahmen wie ein einheitliches Waffenembargo der Union gegen die Türkei und koordinierte EU-Hilfsmaßnahmen für die Opfer des Angriffs. Kritisch hinterfragten einige Abgeordnete in diesem Zusammenhang, wie engagiert sich die Regierung für ein formales Ende des Beitrittskandidaten-Status der Türkei einsetzt. Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein und Außenminister Alexander Schallenberg versicherten allerdings dem Ausschuss, jede Gelegenheit zu nutzen, um ein Umdenken bei den anderen Mitgliedstaaten zu bewirken. Derzeit sei Österreich noch der einzige Befürworter eines definitiven Abbruchs der Beitrittsgespräche mit der Türkei, so Schallenberg.
Bedauerlich findet Minister Schallenberg wiederum, dass die Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien neuerlich vom Außenministerrat der EU verschoben wurde. Beide Länder hätten die Bedingungen für eine Verhandlungsaufnahme inzwischen erfüllt, so Schallenberg und würdigte die Reformfortschritte der südosteuropäischen EU-Nachbarländer als „einzigartig“. Die EU verliere durch die Verzögerung an Glaubwürdigkeit. Zumindest sei auf Ratsebene eine Weiterverhandlung des Themas vorgesehen.
Keine Zeit zu verlieren gelte es auch bei den Brexit-Gesprächen mit dem Vereinigten Königreich, erläuterte der Außenminister. Immerhin habe das britische Parlament Premierminister Boris Johnson eine Frist bis 19. Oktober 2019 gegeben, um entweder ein neues Abkommen mit der EU zu präsentieren oder in Brüssel für eine weitere Verschiebung des geplanten EU-Austritts anzusuchen. „Die Uhr tickt schon sehr hörbar.“ Jedenfalls sei Österreich für einen ungeordneten Austritt des UK legistisch gewappnet, betonte Kanzlerin Bierlein. Beim Europäischen Rat morgen werde man hoffentlich mehr Kenntnisse über das weitere Vorgehen Londons haben.
Zusammengetreten war der EU-Hauptausschuss heute zwecks Beratung der Tagungsagenda des Europäischen Rats am 17. und 18. Oktober 2019. Neben aktuellen politischen Entwicklungen werden dabei die Fortschritte der Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU und die Klimapolitik Diskussionsthemen sein. Mit der designierten Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen wollen die Staats- und Regierungschefs im Rat die politischen Prioritäten der EU für die nächsten fünf Jahre erörtern. Überdies soll Christine Lagarde als neue Präsidentin der Europäischen Zentralbank ernannt werden.
Syrien: EU muss Haltung zeigen
Das Vorgehen der Türkei gegen kurdische Milizen in Nordsyrien seit letzter Woche, inzwischen verbunden mit einem Konflikt zwischen der Türkei und dem syrischen Regime, führt nach Darstellung von Katharina Kucharowits (SPÖ) zu einer eindeutigen humanitären Krise: 200.000 Menschen, davon 70.000 Kinder, befänden sich mittlerweile auf der Flucht. In einem von der SPÖ initiierten und von allen anderen Fraktionen mitunterstützten Antrag auf Stellungnahmen forderte Kucharowits daher die Bundesregierung auf, sich in EU-Gremien für eine Verurteilung der Türkei-Intervention im Nachbarland und einen sofortigen Stopp derselben einzusetzen.
Herangezogen werden sollten dazu sämtliche diplomatische Möglichkeiten inklusive eines EU-weiten Stopps von Waffenlieferungen an die Türkei. Weiters müssten sicherheitspolitische Vorkehrungen getroffen werden, weisen die AntragsstellerInnen auf das Freikommen von ausländischen IS-KämpferInnen infolge der türkischen Angriffe und den erforderlichen EU-Außengrenzschutz hin. In einem zusätzlichen bindenden Allparteienantrag an die Regierung, der ebenfalls einstimmig den Ausschuss passierte, drängen die Fraktionen auf den umgehenden Beginn von Hilfsmaßnahmen der EU für die von den aktuellen Kämpfen betroffenen Personen.
Neben Kucharowits und ihren Parteikollegen Jörg Leichtfried, Christoph Matznetter und Kai Jan Krainer appellierten in der Debatte auch die Freiheitlichen Dagmar Belakowitsch, Petra Steger und Herbert Kickl, JETZT-Klubobmann Bruno Rossmann sowie Claudia Gamon und Nikolaus Scherak (beide NEOS) an die heimische Regierung, eine eindeutige Position zur Türkei zu beziehen. Schon vor der jüngsten Militäraktion habe die Türkei als EU-Beitrittskandidatenland immer wieder gegen grundlegende Werte der EU verstoßen, bestätigte Scherak den ÖVP-Mandatar Reinhold Lopatka, der auf die Inhaftierung zahlloser OppositionspolitikerInnen und JournalistInnen in der Türkei hinwies. Jedoch fügte Lopatka an, dass die EU bis auf Ungarn, dessen Außenminister im Rat gegen ein EU-Waffenembargo gegenüber der Türkei stimmte, hier mit einer Zunge spreche.
Die Sinnhaftigkeit des Einstimmigkeitsprinzips bei derartigen Ratsentscheidungen könne durchaus überdacht werden, meinte Außenminister Schallenberg in Replik auf diesbezügliche Fragen von Abgeordneten. Er hielt aber fest, die Interessen kleinerer Mitgliedstaaten wie Österreich würden dadurch anders als bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit manchmal geschützt. Grundsätzlich bekräftigte er das Bestreben der Regierung, den einstimmig gefassten Auftrag des Nationalrats vom Juni 2019 nachzukommen, eine Beendigung der EU-Betrittsverhandlungen mit der Türkei auch formell zu bewirken. So habe man beispielsweise erreicht, dass in der Strategischen Agenda der EU der Türkei-Beitritt nicht erwähnt werde.
Westbalkan: Bierlein plädiert für rasche Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
Der Entscheidungsaufschub über die Aufnahmen von Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nordmazedonien und mit Albanien stößt in Österreich auf wenig Gegenliebe. Die EU-Perspektive biete den Ländern Südosteuropas die „beste Grundlage für Stabilität und Sicherheit“, unterstrich Bundeskanzlerin Bierlein. Die Fortschritte Nordmazedoniens und Albaniens müssten entsprechend gewürdigt werden. Nicht vergessen werden dürfe die wichtige Rolle der Westbalkanländer als Partner der EU etwa in der Sicherheits- und Migrationspolitik, fügte Außenminister Schallenberg an. Im Gegensatz zur FPÖ, die durchaus Verständnis für die ablehnende Haltung Frankreichs und der Niederlande zeigte, pflichtete ÖVP-Europasprecher Lopatka der Regierung bei. In seinen Augen ist es ein „Rückschlag, dass für Nordmazedonien und Albanien die Tür zu Verhandlungen nicht einmal aufgemacht worden ist“.
Brexit: EU wartet auf Lösungsvorschläge aus London
Zum Thema Brexit berichtete Außenminister Schallenberg, der Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, sei „vorsichtig optimistisch“, eine Lösung mit den Briten zu finden. In „substantiellen Punkten“ habe die britische Regierung einen Kurswechsel eingeschlagen, etwa bei der Gestaltung der Zollkontrollen zur Ein- und Ausfuhr von Gütern über die Binnenmarktgrenze. So sollten die Kontrollen nicht mehr entlang der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland erfolgen, sondern zur See beziehungsweise in Großbritannien. Angesichts zu erwartender Widerstände der nordirischen Unionistenpartei DUP gegen eine derartige Herangehensweise hält Schallenberg einen weiteren Aufschub des Brexit über den 31. Oktober 2019 hinaus durchaus für sinnvoll. In jedem Fall habe Premier Johnson dem Europäischen Rat morgen gangbare Lösungsvorschläge zu liefern. Während Martin Engelberg (ÖVP) den Zugang bestätigte, die EU solle einem späteren Austrittswunsch im Sinne der künftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich zustimmen, äußerte sich Bruno Rossmann (JETZT) kritischer. Eine neuerliche Verschiebung bedürfe einer guten Begründung, nannte Rossmann als Beispiele ein zweites Referendum zum Austritt oder Neuwahlen im UK.
Mehrjähriger Finanzrahmen: Beitragshöhe bleibt Streitthema
Uneinigkeit besteht unter den Fraktionen des Nationalrats weiterhin darüber, wie hoch die nationalen Zahlungen in das EU-Budget ab 2021 ausfallen sollten. Als Reaktion auf einen FPÖ-Antrag, die Bundesregierung solle in Brüssel gegen eine Erhöhung des Nettobeitrags Österreichs auftreten, meinte Georg Strasser (ÖVP), eine starke EU brauche eine ausreichende finanzielle Ausstattung. Den Vorschlag der Regierung, für die EU-Beiträge 1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu veranschlagen, begrüßte Strasser vor diesem Hintergrund. Dank Wirtschaftswachstums werde dadurch nämlich ein höherer Betrag einbezahlt. Trotz der flammenden Argumentation von FPÖ-Mandatarin Steger für den Antrag ihrer Fraktion und ihrer Kritik an der „Umverteilungspolitik“ der EU von Nettozahlern an Nettoempfänger blieb die Forderung in der Minderheit. Ungeachtet dessen bekannte sich Bundeskanzlerin Bierlein dazu, ein „schmales und effizientes EU-Budget“ ausverhandeln zu wollen.
Als Mandatarin des Europaparlaments warnte NEOS-Abgeordnete Gamon, die Wünsche der Mitgliedstaaten an die EU könnten nur erfüllt werden, wenn die EU-Länder auch mehr Ressourcen zur Verfügung stellen. Zudem sei Österreich nicht nur ein Nettozahlerland, sondern auch „Nettoempfänger bei Forschungsausgaben“. Die EU stehe vor zahlreichen Herausforderungen, deren Bewältigung mehr Geld erfordere, zogen die Budgetsprecher von SPÖ und JETZT, Krainer und Rossmann, nach und erwähnten unter anderem den Klimaschutz. (Schluss) rei
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