Literatur am Ring: Buchpräsentation „Die Verschwundenen von Londres 38“ mit Philippe Sands
Parlamentsdirektor Harald Dossi und der S. Fischer Verlag haben heute Abend zu einer Buchpräsentation im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Literatur am Ring“ ins Parlament geladen. Der renommierte britische Menschenrechtsanwalt und Autor Philippe Sands war dabei vor Ort und sprach über das Buch „Die Verschwundenen von Londres 38“ und seine Arbeit daran. Sands war 1998 mit Augusto Pinochet konfrontiert, als er ihn nach dessen Verhaftung in London juristisch beraten sollte. Sands beteiligte sich jedoch an der Anklage gegen den Diktator und stieß in seinen Nachforschungen auf Pinochets Handlanger Walther Rauff.
Daher widmet sich Sands in seinem neuen Buch „Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien“ der Pinochet-Diktatur in Chile und fokussiert dabei auch auf Walther Rauff. Als hochrangiger Nationalsozialist verantwortete Rauff jene Gaswägen, mit denen während des Zweiten Weltkriegs Jüdinnen und Juden, Roma, Sinti und KZ-Insassen ermordet wurden. Im Jahr 1949 flüchtete Rauff nach Chile und beriet den chilenischen Diktator Pinochet beim Aufbau kleinerer Konzentrationslager. Außerdem war er für den bundesdeutschen Geheimdienst (BND) als Agent tätig.
Es sei heute die erste Veranstaltung der Parlamentsbibliothek in diesem Jahr, die im Rahmen der Reihe „Literatur am Ring“ stattfinde, so Parlamentsvizedirektorin Susanne Janistyn-Novák, die in Vertretung des Parlamentsdirektors zur Veranstaltung begrüßte. Der Großvater von Philippe Sands habe in Wien gelebt und musste 1938 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich flüchten, so Janistyn-Novák. Auch ein anderes Buch Sands zur sogenannten „Rattenlinie“ habe einen starken Bezug zu Österreich. So werde jene Fluchtroute bezeichnet, über die viele Nationalsozialisten – mit teils tatkräftiger Unterstützung durch den österreichischen Bischof Alois Hudal – nach Südamerika gelangen konnten. Bei seinen Recherchen sei Philippe Sands auch auf den Namen Walther Rauff gestoßen. Mit dem heute präsentierten Buch schreibe Sands eine Doppelgeschichte über Massenmord und Folter und über die Möglichkeiten und Grenzen des Rechts, die zwei brutale Diktaturen und mehrere Jahrzehnte überspanne und verbinde. Er habe mit Hinterbliebenen, Involvierten und Zeitzeug:innen gesprochen und gebe zugleich aus erster Hand Einblick in ein internationales Strafverfahren von historischer Bedeutung.
Philippe Sands im Gespräch mit Marie-Theres Arnbom
In seinem Gespräch mit der Historikerin Marie-Theres Arnbom gab Philippe Sands Einblicke in sein Buch und in seine Arbeit. Er berichtete anschaulich über seine Recherchen und unzählige Gespräche. Er habe mit vielen Menschen von allen Seiten gesprochen, so Sands. Wichtig sei ihm, diese Gespräche wertfrei wiederzugeben, damit sich der oder die Leser:in selbst ein Bild machen könne. Die Nachforschungen habe er auch vor dem Hintergrund angestellt, weil sich aus dem persönlichen Umfeld manche entfernte Verknüpfungen zu der Geschichte in der Vergangenheit herausstellten. Insgesamt seien für ihn Zufälle etwas Wichtiges, und davon habe es im Zusammenhang mit der Recherche viele gegeben. Sei es der Nachbar, der den Haftbefehl für Pinochet damals unterschrieben habe, oder der Taxifahrer, der ihm Hinweise gab.
Was den damaligen Haftbefehl gegen Pinochet betrifft, sei das völliges Neuland und ein Präzedenzfall von immenser Bedeutung gewesen, erörterte Sands. Die damalige Botschaft sei gewesen, dass, wenn man Verbrechen nach dem Völkerrecht begehe, man auch im Ausland dem Risiko ausgesetzt sei, dass Gerichte diese Verbrechen verfolgen. Auch heute gebe es zu diesen gerichtlichen Zuständigkeiten oder zu einer absoluten Immunität von Staatsoberhäuptern sehr komplexe Fragen zu beantworten.
Rauff wiederum sei nach seiner Flucht in Chile vom BND angeheuert worden, so Sands. Ähnlich wie später bei Pinochet sei es in den 1960er-Jahren gegen Rauff zu einem Haftbefehl wegen Massenmord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen. Allerdings habe gegen diesen Haftbefehl eine Verjährungsfrist in Chile gegriffen, „das war also vorbei“, so Sands. Als 1973 Pinochet zum Diktator wurde, habe Rauff an Freunde in Deutschland geschrieben: „Ich stehe jetzt unter Denkmalschutz.“
In der Recherche zu Rauff habe sich Sands auf Zeugenaussagen gestützt, weil es keine Archivbestände oder Dokumente mehr gebe. Sands schilderte etwa ein Beispiel eines Zeugen, der selbst gefoltert hatte und durch seine Aussagen mit einem „Deal“ mit den Strafverfolgungsbehörden zu einem „Staatszeugen“ wurde. Man habe nun zum ersten Mal klare Belege dafür, dass ein hochrangiger Nazi sowohl in Naziverbrechen, als auch in Verbrechen in Südamerika involviert gewesen sei, so Sands. Erst seien es die Gaswägen gewesen, später – in Chile – dann Kühlwägen, um Personen verschwinden zu lassen. Ein und dieselbe Person habe sich dieselben Mittel nochmals zu Nutze gemacht.
Schreiben im Team
Das Schreiben eines Buchs funktioniere für ihn nur im Team, erörterte Sands außerdem aus seiner schriftstellerischen Praxis. So habe er für einen „zweiten Blick“ mit einer PhD-Studentin zusammengearbeitet. Dabei sei es etwa auch um die Bestätigung von eigenen Wahrnehmungen gegangen, etwa im Gespräch mit Zeugen. Begonnen habe er mit dem Buch vor etwa zehn Jahren. Er schreibe an den Themen, die ihn faszinieren, und das nicht in Vollzeit, zumal er Uniprofessor sei, so Sands. Das langsame Arbeiten sei das Schöne daran. Hätte es schneller gehen müssen, hätten aus seiner Sicht Nuancen und weitere Aspekte im Buch gefehlt. (Schluss) mbu
HINWEIS: Die Veranstaltung wurde via Livestream übertragen und ist als Video-on-Demand in der Mediathek des Parlaments verfügbar. Fotos von der Veranstaltung sowie eine Nachschau auf vergangene Veranstaltungen finden Sie im Webportal des Parlaments.
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