Menschen mit Behinderungen haben ein Recht darauf, selbstbestimmt zu wohnen!
„Viele Menschen, die wir vertreten, können nicht so wohnen, wie sie möchten, weil entweder die finanzielle Absicherung fehlt oder wichtige Unterstützungsdienste im Alltag nicht zur Verfügung stehen, die ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Institutionen überhaupt erst ermöglichen würden“
, kritisierte Gerlinde Heim, Geschäftsführerin des Erwachsenenschutzvereins VertretungsNetz im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Unabhängigen Monitoringausschuss.
Im Vorfeld des „internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen“ (3.12.) machten die beiden Organisationen darauf aufmerksam, dass das Recht auf die freie Wahl des Wohnsitzes für Menschen mit Behinderungen in der Praxis ins Leere läuft und der Prozess der De-Institutionalisierung, also der Abbau von institutionellen Wohnformen, zu schleppend verläuft.
Soziale Absicherung wird zum Balanceakt
„Eine wichtige Aufgabe unserer Erwachsenenvertreter:innen ist es, den Lebensunterhalt der vertretenen Menschen abzusichern. Immer öfter wissen sie aber nicht mehr, wie sie das bewerkstelligen sollen, weil die finanzielle Lage so prekär ist“
, kritisiert Heim. So fehlt eine grundlegende soziale Absicherung für Personen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen als „nicht selbsterhaltungsfähig“ gelten.
Das Einkommen muss daher aus kleinen Teilbeträgen zusammengestoppelt werden: Sozialhilfe, erhöhte Familienbeihilfe, Pflegegeld, Invaliditäts- oder Waisenpension, Heimopferrente usw. Leben kann man davon bei stark gestiegenen Fixkosten und Mieten immer weniger. Zur Verdeutlichung: Für den Wohnbedarf einer Person – Miete inklusive Strom, Gas und Betriebskosten – sieht die Sozialhilfe in OÖ 288,96 Euro vor. Der Höchstsatz für Wohnen und Lebensunterhalt von 1.156 Euro liegt in allen Bundesländern deutlich unter der Armutsgefährdungsschwelle von derzeit rund 1.572 Euro.
Leider ziehen manche Sozialbehörden jeden noch so kleinen zusätzlichen Geldbetrag von der Sozialhilfe ab, auch ein Anspruch auf Wohnbeihilfe oder der „Behindertenbonus“ wird meist gegengerechnet. So ist es aber kaum möglich, finanzielle Rücklagen zu bilden, für den Fall, dass die Waschmaschine kaputt wird, man umziehen muss oder eine dringende Zahnbehandlung ansteht. Ein Klient von VertretungsNetz aus Niederösterreich muss demnächst wahrscheinlich wegen einer kaputten Heizung ins Pflegeheim ziehen. Dies, obwohl er mit Unterstützung durch einen mobilen Betreuungsdienst bisher noch zuhause zurechtkam.
Nachteilige Unterhaltsregelungen
Sozialbehörden verschärfen mitunter die Notlagen: In vielen Fällen bestehen sie darauf, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen bei ihren Eltern Unterhalt einfordern und zahlen weniger Sozialhilfe aus. Nach den österreichischen Gesetzen bleiben Eltern nämlich ein Leben lang in der Pflicht, Unterhalt zu leisten, wenn ihr Kind aufgrund einer Beeinträchtigung niemals selbsterhaltungsfähig wird.
„Es muss endlich Schluss mit der beschämenden Praxis sein, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen finanziell abhängig bleiben und von den Eltern verlangt wird, ihr Leben lang als Lückenbüßer für den Sozialstaat einzuspringen!“
fordert Heim. So lebt ein 33-jähriger Klient von VertretungsNetz in einer niederösterreichischen Einrichtung für alte Menschen und ist dort sehr unglücklich. Eine eigene Wohnung ist nur deshalb nicht leistbar, weil er dafür bei seinem ebenfalls armutsbetroffenen Vater Unterhalt einfordern müsste.
Barrierefreier Umbau nicht möglich
Das Wohnen in den eigenen vier Wänden scheitert oft auch daran, dass die Wohnung nicht barrierefrei ist. So sparte eine von uns vertretene Wienerin eisern, damit in ihre Substandard-Wohnung, in der sie seit Jahrzehnten wohnte, eine Dusche eingebaut werden kann. Denn mit zunehmender Pflegebedürftigkeit wurde es immer schwieriger, sich an der Spüle in der Küche zu waschen. Doch weil die Ersparnisse die Vermögensfreibeitragsgrenze für Mindestsicherungsbezieher:innen (derzeit: 6.935,04 Euro in Wien) überstiegen, wurde die monatliche Leistung gestrichen.
VertretungsNetz hat diesen Fall bis vor den Verfassungsgerichtshof gebracht, der die Entscheidung der MA40 jedoch bestätigte. Im Klartext heißt das: Wer auf Mindestsicherung angewiesen ist, kann den barrierefreien Umbau der eigenen Wohnung nicht stemmen, auch wenn man sich das Geld dafür vom Mund abspart.
Wer Pflege braucht, dem bleibt nur das Heim – oder nicht mal das
„Werden Menschen pflegebedürftig und haben keine Angehörigen, wird es immer schwieriger, selbstbestimmt zu leben. Denn mobile Pflege- und Unterstützungsdienste fehlen bzw. sind mit dem Einkommen nicht zu finanzieren. So müssen viele Betroffene in ein Pflegeheim umziehen – obwohl die stationäre Unterbringung viel teurer ist, als die Pflege zuhause“
, kritisiert Heim.
„Die schlimmste Konstellation – und diese sehen wir in letzter Zeit immer öfter: Pflegebedürftige Menschen wären dringend auf mobile Dienste angewiesen, die aber entweder nicht leistbar sind oder als Angebot regional nicht zur Verfügung stehen. Gleichzeitig findet sich aber auch über lange Zeit kein Heimplatz. Als Konsequenz daraus werden die Betroffenen völlig im Stich gelassen. Man wartet zu, bis sie infolge ihres immer schlechteren Gesundheitszustands ins Krankenhaus müssen – und das in einem der reichsten Länder der Welt“
, zeigt sich Heim entsetzt.
Teilhabe fördern
„Inklusion ist ohne soziale Mindestabsicherung nicht zu haben. Jede:r von uns kann psychisch erkranken, eine Behinderung erwerben oder pflegebedürftig werden. Das Risiko dafür ist sogar beträchtlich. Wir müssen alle betroffenen Menschen sozial so absichern, dass sie würdevoll und selbstbestimmt leben und an der Gemeinschaft teilhaben können“
, fordert Heim mehr Priorität für das Thema ein.
Dazu gehört auch ein massiver Ausbau der Unterstützungsdienste. Besonders wichtig wäre neben der mobilen Betreuung und Pflege ein flächendeckendes Angebot an persönlicher Assistenz – und zwar auch für Menschen mit intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen. So könnte man auch viele Erwachsenenvertretungen verhindern, zeigt sich Heim überzeugt.
Obwohl der Bund Mittel für einen Ausbau bereitstellt, gibt es für die persönliche Assistenz bisher nur vereinzelte Modellprojekte bzw. werden die Mittel nur von wenigen Bundesländern in Anspruch genommen. Ein Regelbetrieb liegt damit noch immer in weiter Ferne. „Es ist an der Zeit, dass alle Bundesländer Verantwortung für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention übernehmen und die nötigen Strukturen schaffen, damit ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden und in der Gemeinschaft möglich ist“
, fordert Heim.
Soziale Rechte als Hebel
Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde von Österreich ratifiziert und ist für alle staatlichen Ebenen verbindlich. Sie ist jedoch nicht unmittelbar anwendbar und Rechte aus der Konvention sind für einzelne Personen nicht direkt einklagbar. Auch das in der Verfassung verankerte Grundrecht auf die freie Wahl des Wohnsitzes läuft ins Leere, wenn z.B. die mobile Pflege nicht vorhanden ist, die erst ermöglicht, dieses Grundrecht wahrzunehmen und zu Hause wohnen zu bleiben. „Die Verankerung von sozialen Rechten auf Mindestversorgung, Pflege und Wohnen in der Verfassung könnte hier den entscheidenden Unterschied machen“
, zeigt sich Heim überzeugt.
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