Lösungen finden für das Zusammenleben verschiedener Nationen: Eine bleibende Herausforderung von Staaten
Die Frage, wie Staaten mit großer kultureller und sprachlicher Diversität gleiche Rechte für unterschiedliche nationale Gruppen sicherstellen können, ist nach wie vor aktuell. Europäische Staaten haben im 19. und 20. Jahrhundert verschiedene Zugänge zu dieser Frage entwickelt. Die internationale Forschungsgruppe „Nationale Vielfalt in der Geschichte“ an der Universität Wien stellte am Dienstagabend im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung im Parlament ihre Erkenntnisse vor. Sie präsentierte Lösungsansätze, die bereits in der Habsburgermonarchie zur Anwendung kamen und die heute auch im Rahmen des Umgangs der EU mit Sprach- und Minderheitenrechten relevant sind.
Parlamentsvizedirektorin Susanne Janistyn-Novák begrüßte die Teilnehmer:innen zur dritten Veranstaltung in der Reihe „Parlament und Demokratie – gestern und heute“. Sie freue sich, dass die Veranstaltung in Kooperation der Forschungsgruppe mit dem Archiv des österreichischen Parlaments zustande gekommen sei. Das Thema des Umgangs von Staaten mit nationaler Vielfalt sei eng mit der Geschichte des Hohen Hauses verbunden. Der Reichsrat als Parlament des Vielvölkerstaates, den die österreichische Reichshälfte der Habsburgermonarchie bildete, sei ein Ort leidenschaftlichster Debatten über die „nationale Frage“ gewesen, erinnerte die Parlamentsvizedirektorin.
Drei grundsätzliche Zugänge zur Gewährung nationaler Rechte
Eine kurze inhaltliche Einführung gab Börries Kuzmany, Professor für Neuere Geschichte Zentral- und Osteuropas und der Habsburgermonarchie an der Universität Wien. Demnach ließen sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts drei grundlegende Zugänge im Umgang mit nationaler Vielfalt unterscheiden. Einer davon bestehe in der Zuerkennung nationaler Rechte mit den Individuen als gleichberechtigten Staatsbürger:innen im Mittelpunkt. Ein Beispiel dafür sei das Recht auf die Verwendung der Muttersprache bei Behörden.
Der zweite Zugang gewähre Minderheiten nationale Rechte durch territoriale Selbstverwaltung eines Teils des Staatsgebiets. Je gemischter eine Region sei, umso weniger sinnvoll bzw. schwieriger umsetzbar sei eine Territorialautonomie, wie sich historisch in Ostmitteleuropa gezeigt habe.
Die dritte Idee sei, nationale Rechte direkt an eine nationale Gruppe zu knüpfen. Damit würden nur die jeweiligen Angehörigen dieser nationalen Kollektivkörperschaft die entsprechenden Rechte genießen, dafür aber unabhängig davon, wo auf dem Staatsgebiet sie leben.
Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der gesetzlichen Anwendung finde man dabei oft Mischformen, führte Kuzmany aus. Bereits im zentralen Gesetz, das die nationale Vielfalt in der österreichischen Reichhälfte der Donaumonarchie regelte, der Artikel 19 des österreichischen Staatsgrundgesetzes von 1867, seien alle drei Zugänge enthalten. So stelle die darin festgestellte Gleichberechtigung „aller Volksstämme des Staates“ zur Wahrung und Pflege ihrer jeweiligen Nationalität und Sprache auf die Gruppe ab. Die staatliche Anerkennung der „Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben“ enthalte hingegen einen territorialen Aspekt. Auf das Individuum bezogen sei das Recht, eine Grundausbildung ohne Zwang zur Erlernung einer zweiten Landessprache erhalten zu können.
Gruppenrechtliche, nicht-territoriale Zugänge zu nationalen Fragen
Börries Kuzmany ging detaillierter auf gruppenrechtliche, nicht-territoriale Zugänge zur Gewährleistung nationaler Rechte ein. Bei diesen seien eben nicht das Individuum oder ein Teilgebiet des Staates die Träger von Rechten, sondern die betreffenden Gruppen an sich, unabhängig vom Wohnort. Die ab 1848 jahrzehntelang geführte Staatsreformdiskussion der Monarchie habe gezeigt, dass weder Mehrheitsentscheidungen, noch territoriale Neugestaltung entlang von Sprachgrenzen ausreichende Lösungen in Nationalitätenfragen böten, wie Kuzmany ausführte. Daher entwarfen etwa die Sozialdemokrat:innen rund um Karl Renner das austromarxistische Modell eines „Nationalitätenbundesstaates“, das territoriale und nicht-territoriale Elemente verbinde.
Mit diesem Modell sei nicht die Erwartung verbunden gewesen, alle Konflikte lösen zu können. Man habe sich aber einen stärkeren Ausgleich sozial-ökonomischer Gegensätze erhofft, erläuterte Kuzmany. In Österreich-Ungarn seien gruppenrechtliche Ansätze daher im Rahmen der nationalen Ausgleiche kurz nach der Jahrhundertwende im Wahlrecht von Mähren, Bukowina, Galizien und Bosnien zur Anwendung gekommen. Diese sah unter anderem nationale Kurien vor. In der Zwischenkriegszeit sei das Konzept der nicht-territorialen Autonomie dann noch des öfteren aufgegriffen worden. Ein wichtiger Faktor dabei sei gewesen, dass dieser Zugang im Grunde kein „ideologisches Mascherl“ trage, betonte Kuzmany. Damit fand er nach dem Ersten Weltkrieg unter anderem Eingang in die Gesetzgebung der sozialistischen und demokratischen Ukrainischen Volksrepublik, der bürgerlich-liberalen Demokratien des Baltikums, aber auch in das Programm der rechtsradikalen Sudetendeutschen Partei. Auch die wichtigste Organisation für den Schutz von Minderheiten in der Zwischenkriegszeit, die Nichtregierungsorganisation „Europäischer Nationalitätenkongress“ (ENK), habe stark auf die nicht-territoriale Autonomie gesetzt.
Minderheitenschutz aus individualrechtlicher Perspektive
Nach den Ausführungen über die gruppenrechtlichen, nicht-territorialen Konzepte lieferte Jürgen Pirker, Professor für Law and Governance an der Universität Graz einen Abriss der individualrechtlichen Zugänge zum Thema. Zunächst wandte er seinen Blick auf die europäische Ebene, wo 100 Millionen Menschen zu 350 verschiedenen ethnischen oder sprachlichen Minderheiten gehörten. Ihr Schutz stelle eine besondere Herausforderung für eine „immer tiefere Union“ dar. Zu deren Bewältigung plädierte Pirker dafür, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. So habe die Grenzziehung der Alliierten nach rein sprachlichen Kriterien im Nachgang des Ersten Weltkriegs zu Konflikten vor allem in gemischtsprachigen Gebieten geführt. Nach den Verwerfungen und Abgründen des Zweiten Weltkriegs habe man versucht, aus den Fehlern zu lernen und den Schutz von Minderheiten im Rahmen der Menschenrechte individualrechtlich zu konzipieren.
Pirker gab jedoch zu bedenken, dass es für die Wahrung der kulturellen Identitäten von Minderheiten besondere Fördermaßnahmen benötige, die über den formellen Ansatz individueller Gleichberechtigung hinausgingen, da dieser alleine nicht ausreiche. Bei der Gewährung kollektiver Rechte hätten sich die Staaten aufgrund der Befürchtung von Sezessionsbewegungen aber zunächst vorsichtig verhalten. In Österreich seien kollektive Minderheitenrechte für die sechs anerkannten autochthonen Volksgruppen im Staatsvertrag festgehalten worden. Sie betreffen die Bereiche der Amtssprachen und des Elementarunterrichts. Die Frage der zweisprachigen Ortstafeln, die speziell Kärnten über Jahrzehnte beschäftigt habe, stelle laut Pirker jedoch einen bloßen Auftrag an die Staatsorgane und kein Individualrecht dar. Gerade Auseinandersetzungen wie der Kärntner Ortstafelkonflikt würden zeigen, dass der Minderheitenschutz nicht als rein rechtliche Frage anzusehen sei. Es komme vor allem auf die Schaffung eines „Klimas der Toleranz“ an, in dem Minderheiten als Bereicherung empfunden werden, damit deren Rechte auch umgesetzt werden könnten.
Podiumsdiskussion über Entwicklung des Minderheitenschutzes
In der abschließenden Podiumsdiskussion vertieften die beiden Experten, Börries Kuzmany und Jürgen Pirker, unter der Moderation der Historikerin Marija Wakounig (Universität Wien) ihre Vorträge. So warfen sie einen Blick auf die Entwicklung der Begriffe Volksstämme, Minderheiten und Volksgruppen. Der Begriff „Volksstämme“ sei im österreichischen Staatsgrundgesetzes von 1867 verwendet worden, der Begriff der „Nationalität“ sei aber zu dieser Zeit auch schon im Umlauf gewesen, erklärte Kuzmany. Erst in der Zwischenkriegszeit sei „Minderheiten“ mit den Minderheitenschutzbestimmungen des Völkerbundes aufgekommen. In der Habsburgermonarchie sei dieser Begriff hingegen eher nicht verwendet worden, da er abwertend interpretiert werden könnte. In der Habsburgermonarchie sei vielmehr von „Nationalitäten“ gesprochen worden. In der Zweiten Republik sei schließlich mit dem Volksgruppengesetz der „Volksgruppen“-Begriff verwendet worden.
Ob Volksstämme, Minderheiten und Volksgruppen, es gehe dabei immer um dieselben Personen, die sich etwa durch eine gemeinsame Sprache, Kultur oder Geschichte auszeichnen, erklärte Pirker. Es stelle sich dabei immer die Frage, wer eine Minderheit ist und wer nicht. Dies würde in der Regel der Staat selbst entscheiden. Der Begriff „Minderheiten“ würde aus dem Internationalen Recht kommen und sei im Englischen mit „Minorities“ nicht so negativ wie im Deutschen konnotiert. Artikel 19 des österreichischen Staatsgrundgesetzes könnte eine „Sleeping beauty“ sein, die man wecken könnte. Eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus 1952 habe aber unter anderem zum Inhalt, dass der Artikel 19 nicht mehr anwendbar sei, da dieser durch den Staatsvertrag von St. Germain verdrängt worden sei. Man könnte dies aber auch anders sehen, da es bei Grundrechten keine Verdrängung geben sollte und dass diese sich nicht gegenseitig einschränken dürften, erklärte Pirker.
Zudem wiesen die Experten darauf hin, wie schwierig es ist und zu welchen Problemen es führen kann, zu erheben, wer Teil einer Minderheit ist und wer nicht. Solche Zählungen seien in der Geschichte auch missbraucht worden, erklärte Pirker. Es sei hier immer die Frage, ob über solche Erhebungen, die Rechte einer Gruppe beschränkt oder deren Bedarf für Maßnahmen erhoben werden sollen.
Pirker wies auch auf die hohe Bedeutung der Zivilgesellschaft zum Schutz der Minderheiten und zur Förderung der Vielfalt hin. Wie etwa bei der Ortstafel-Diskussion in den 1970er-Jahren sei es oft dieser Druck von außen, der für Bewegung sorgt.
Auf die Frage zum Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik meinte Pirker, dass die Wissenschaft Expertise bereitstellen könne, welche Instrumente in welchen Kontexten funktionieren. Entscheiden müsse in Folge aber die Politik. Oft habe es in der Geschichte ähnliche Situationen und ähnliche Problemstellungen gegeben, erklärte auch Kuzmany. Historiker:innen könnten hier Wissen bereitstellen und die Bandbreite zeigen, wie in unterschiedlichen Situationen verschiedene Lösungen verwendet worden seien.
Das Beispiel Südtirol sei eine starke Form der Autonomie und werde oft als Erfolgsmodell im Minderheitenschutz herangezogen, sagte Pirker. Diese basiere auf „ethnischen Proporz“, bei dem öffentliche Ressourcen anhand der Stärke der drei Sprachgruppen aufgeteilt würden. Ein solches System könne in intensiven Konfliktphasen zu einer Stabilisierung und Befriedung führen. Es sei aber die Frage, wie sich ein solches System langfristig weiterentwickeln kann und welche Auswirkungen es auf die Einzelnen hat. Südtirol sei ein gutes Beispiel für eine Mischform, ergänzte Kuzmany. Diese beinhalte eine territoriale Autonomie und angesichts des Proporzsystems einen gruppenrechtlichen Zugang. (Schluss) pst/sox/wit
HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung sowie eine Nachschau auf vergangene Veranstaltungen finden Sie im Webportal des Parlaments.
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