Bundesratspräsidentin Schumann: Forderung "Niemals wieder" heißt, Verantwortung zu übernehmen | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

Bundesratspräsidentin Schumann: Forderung „Niemals wieder“ heißt, Verantwortung zu übernehmen

0 291

"Vergiss nie, dass du ein jüdisches Kind bist" lautet der Titel des Buchs von Anna Wexberg-Kubesch, das den so genannten "Kindertransporten" in den Jahren 1938/39 gewidmet ist. Er stand auch über der Gedenkveranstaltung, zu der Bundesratspräsidentin Korinna Schumann gestern ins Palais Epstein eingeladen hatte. Der Abend erinnerte an jene Gruppe jüdischer Kinder in Europa, die auf unterschiedlichste Weise den Holocaust überlebten, während rund 1,5 Millionen ihrer Altersgenoss:innen, die dem mörderischen NS-Regime zum Opfer fielen.

Schumann: Staatsbürgerschaftsgesetz ist ein Versuch, die Verantwortung Österreichs wahrzunehmen

Bundesratspräsidentin Korinna Schumann betonte in ihren Eröffnungsworten die Wichtigkeit einer aktiven Erinnerungspolitik für die Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses. Die Forderung "Niemals wieder!" bedeute, sich der Vergangenheit zu stellen und Verantwortung für die Gegenwart zu übernehmen. Das österreichische Parlament trage in diesem Sinne mit regelmäßigen Veranstaltungen und Gedenkfeiern zur Erinnerungskultur bei. Diesmal erinnere man an das Schicksal der Kinder, die dem so genannten "Großdeutschen Reich" 1938 und 1939 aufgrund des Engagements von britisch-jüdischen Hilfsorganisationen entfliehen konnten. Auch sie müssten ihren Platz in der kollektiven Erinnerung erhalten, sagte Schumann.

Viele der Kinder, deren Familien versuchten, sie mit einem "Kindertransport" vor der Verfolgung zu retten, stammten aus Wien. Auch wenn sie oberflächlich betrachtet zu den "Glücklichen" gehören würden, sei ihnen allen die Erfahrung der Entwurzelung und das Trauma der Flucht gemeinsam. Das offizielle Österreich habe nach 1945 auch dieser Gruppe gegenüber zu lange versäumt, seine Verantwortung wahrzunehmen und ein Angebot der Wiedergutmachung auszusprechen. Erst 2019 sei vom Parlament ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz auf den Weg gebracht worden, das sich auch an die Nachkommen von Menschen richte, die einen Anspruch auf die österreichische Staatsbürgerschaft hatten. Dieses Gesetz sei wichtig als ein später und kleiner Versuch, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen, meinte Schumann.

Serloth: Eine beispiellose Hilfsaktion

Die Politikwissenschaftlerin Barbara Serloth führte aus, wie es dazu kam, dass eine kleine Gruppe von Kindern durch die Aktion "Kindertransport" gerettet werden konnte. Ausgangspunkt und Hauptziel der beispiellosen Hilfsaktion war Großbritannien, führte Serloth aus. Jüdische Hilfsorganisationen reagierten auf den Novemberpogrom 1938, indem sie sich an offizielle Stellen wandten und erreichten, dass die strengen Visabestimmung für Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 17 Jahren gelockert wurden. In Zusammenarbeit vieler Stellen gelang es, 10.000 bis 12.000 Kinder aus verfolgten Familien von Dezember 1938 bis August 1939 in mehreren Gruppen ohne ihre Eltern aus dem Gebiet bzw. dem Einflussbereich des Großdeutschen Reichs herauszubringen. In Großbritannien wurden sie von Pflegefamilien, Heimen und karitativen Einrichtungen aufgenommen. Viele von ihnen sahen die Familienmitglieder, die sie zurücklassen hatten müssen, nicht wieder.

Entwurzelung als nachwirkendes Trauma

Serloth diskutierte in weiterer Folge mit zwei Wissenschafterinnen auf dem Gebiet der Erinnerungskultur. Anna Wexberg-Kubesch und Milla Segal berichteten über ihre Erfahrungen mit Menschen, die als Kinder vor den Nationalsozialisten gerettet werden konnten. Die Erfahrung der Kindertransporte hat demnach bei aller Unterschiedlichkeit der Einzelschicksale eine Gruppenidentität geschaffen. Bis heute bezeichnen sich die Menschen, deren Flucht auf diese Weise organisiert wurde, als "Kinder". Segal erinnerte daran, dass nicht nur die Entwurzelung der Flucht eine prägende und nachwirkende Erfahrung war. Die Kinder hätten bereits vorher traumatische Erfahrungen durchmachen müssen. Sie waren Zeug:innen des NS-Terrors und erlebten, wie sich praktisch über Nacht Nachbar:innen und Freund:innen von ihnen abwandten. Wexberg-Kubesch meinte, eine Rückkehr nach Österreich hätte 1945 vermutlich nur für Einzelne eine Option dargestellt, da nach sieben Jahren in Großbritannien die Kinder bereits in ihre neue Heimat integriert waren. Österreich hätte aber den Überlebenden gegenüber sehr viel früher ein Angebot als alte Heimat machen sollen, meinte sie. Hier sei vieles versäumt worden, das nun nicht mehr nachgeholt werden könne. 

Mit Blick auf die Gegenwart thematisierte Bunderatspräsidentin Schumann die Verantwortung von Politik und Zivilgesellschaft im Umgang mit der Vergangenheit. Dem weltweit zu beobachtenden Wiedererstarken des Antisemitismus dürfe keinesfalls mit Wegschauen und Verharmlosung begegnet werden, sondern man müsse ihm aktiv entgegentreten, mahnte die Bundesratspräsidentin. Man riskiere sonst, dass demokratiefeindliche Kräfte den Diskurs und das kollektive Gedächtnis in ihrem Sinne manipulieren können. Eine solche Relativierung und Verleugnung der Vergangenheit nicht zuzulassen, das schulde man auch den aus Österreich geflüchteten Kindern. (Schluss) sox

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments.


OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at
(C) Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender. Pressedienst der Parlamentsdirektion – Parlamentskorrespondenz

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.