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TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Der EU-Konstruktionsfehler“, von Mario Zenhäusern

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Innsbruck (OTS) – Das Einstimmigkeitsprinzip der Europäischen Union sollte allen Mitgliedsstaaten das gleiche Gewicht bei Entschei­dungen garantieren. Unter Politikern wie Viktor Orbán verkommt es zum Instrument der schamlosen Erpressung.

Die viel gepriesene Europäische Union hat einen schweren Konstruktionsfehler. 70 Jahre nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1952 und 65 Jahre nach den Römischen Verträgen, die den Beginn des Friedensprojektes Europa darstellen, haben sich die 27 Mitgliedsstaaten in eine praktisch ausweglose Situation hineinmanövriert. Es geht um das Einstimmigkeitprinzip, das eingeführt wurde, um allen EU-Ländern, unabhängig von Größe, Wirtschafts- oder Finanzkraft, das gleiche Mitspracherecht und das gleiche Stimmgewicht zu garantieren. Natürlich ist es von Vorteil, wenn die Europäische Union in Sachfragen geeint auftritt. Das verleiht den Beschlüssen mehr Gewicht. Aber, und das ist leider die bittere Realität, der Zwang zur Einstimmigkeit führt auch dazu, dass nach langen Verhandlungen immer öfter nicht der so genannte große Wurf, sondern lediglich der kleinste gemeinsame Nenner herauskommt.
Als ob das nicht Makel genug wäre, drohten und drohen immer wieder Regierungschefs mit der Veto-Keule, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Das hat bei der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher schon bestens funktioniert, und es klappt immer noch, wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán seit Jahren beweist. Es ist ja nicht das erste Mal, dass er Beschlüsse sabotiert, um für sich und sein Land Vorteile zu erzwingen. Dass er jetzt aber den Angriffskrieg Wladimir Putins auf die Ukraine instrumentalisiert und die verzweifelten Versuche der EU-Staaten boykottiert, den russischen Präsidenten mit harten Sanktionen zum Innehalten zu bringen, das ist eine neue Dimension. Orbán führt die EU gewissermaßen am Nasenring durch die Manege, um seine Ziele durchzusetzen. Die Gemeinschaft muss ihn zähneknirschend gewähren lassen: Lieber ein Beschluss mit Bauchweh als gar keiner, lautet offenbar die Devise, wie die von Orbán verlangte Streichung des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. von der EU-Sanktionsliste beweist.
In den Händen von Autokraten wie Orbán verkommt das Einstimmigkeitsprinzip so zum Instrument der schamlosen Erpressung. Das zu ändern, ist so gut wie unmöglich, weil es dazu wieder einen einstimmigen Beschluss aller 27 Mitgliedsstaaten bräuchte. Und Staatschefs wie Orbán – aber eben nicht nur er, wie die Geschichte hinlänglich belegt – werden sich hüten, diese Chance auf Verwirklichung der eigenen Ziele auf Spiel zu setzen. Der schwere Konstruktionsfehler der EU wird also auch in Zukunft den Gemeinschaftsgeist torpedieren und jenen, die ihn für ihre Zwecke ausnützen, eine Macht verleihen, die ihnen nicht zusteht.

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