TIROLER TAGESZEITUNG "Leitartikel" vom 4. Juli 2020 von Florian Madl "Der Sport eignet sich als Testballon" | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 4. Juli 2020 von Florian Madl „Der Sport eignet sich als Testballon“

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Innsbruck (OTS) – Geisterrennen, Geisterspiele und am Ende Geister-Meister: Der Weltsport findet sich augenblicklich in Quarantäneblasen wie jener beim Formel-1-Auftakt in Spielberg oder im Profifußball wieder. Ein steriler Weg zurück in die Normalität.

Rivalitäten innerhalb eines Teams schrieben bislang die Geschichte der Formel 1: Das war bei Nelson Piquet und Nigel Mansell so, das war bei Alain Prost und dem unvergessenen Ayrton Senna nicht anders. Doch gerade jetzt, wo sich das Duell Sebastian Vettel/Charles Leclerc zuspitzt, verbergen die Teamkollegen ihre Gesichter nichtssagend hinter einer roten Maske. Die ohnedies auf Hightech und Isolation getrimmte Königsklasse des Motorsports wirkt steril wie jene Blutlabors, in denen die erlesene Kaste der Teammitglieder regelmäßig ihre Covid-19-Tests abzuliefern habe. Selbst Sebastian Vettels Wutrede über seine Ferrari-Ausbootung wirkte angesichts des Mund-Nasen-Schutzes geradezu kabaretthaft – viel Dampf konnte er hinter seinem Stück Textil ohnedies nicht ablassen.
Der viel strapazierte Begriff der neuen Normalität ereilte den Sport, den mancher so schmerzlich vermisste. Denn auch für den Fußball gilt das Wall-Street-Prinzip „Too big to fail“ – zu groß, um zu scheitern, also gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden. Die zuletzt geschaffenen Quarantäneblasen lassen zumindest eine TV-Übertragung zu, „Geister-Meister“ wie jene des FC Bayern oder des FC Liverpool dürfen mit Respektabstand feiern. Und das Fernsehen fängt leere Stadien ein, in denen überengagierte Sprecher, Jubel-Tonbänder oder wie in Südkorea Sexpuppen einen Menschenauflauf simulieren sollen. Die Maschinerie dahinter befindet sich im Kontrollmodus, Infizierte unerwünscht. Der Weltsport findet ohne Publikum statt, anders wäre es nicht möglich. Ein geradezu trotziges Aufbäumen, um dem Coronavirus etwas Alltag abzuringen. Vorbei die Zeit, da sich Sieger und Verlierer die Hände schüttelten oder umarmten. Das zu betrauern, wird der Situation nicht gerecht, die Infektionszahlen in Nord- und Südamerika rechtfertigen keine Besucher.
So gespenstisch das Szenario auch anmutet – tatsächlich stellen Rennen wie jene in Spielberg oder die Wiederaufnahme der Fußball-Bundesliga ein Privileg dar, das es wertzuschätzen gilt. Denn wenn es dort schon nicht funktioniert, wo die Anzahl der Corona-Tests eine lückenlose Observierung zulässt, wie soll es dann einige Ebenen weiter unten klappen? TV-Bilder, wie sie am Wochenende aus Spielberg zu sehen sind, will sich in ferner Zukunft keiner vorstellen. Aber die Alternative, es nicht zumindest zu probieren, erscheint noch weniger erstrebenswert. Der Apfel schmeckt sauer, aber das gilt für vieles andere auch.

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