TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel vom 22.Oktober 2018 von Florian Madl - „Aufschreien allein ist zu wenig“ | Brandaktuell - Nachrichten aus allen Bereichen

TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel vom 22.Oktober 2018 von Florian Madl – „Aufschreien allein ist zu wenig“

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Innsbruck (OTS) – Die jüngsten Missbrauchsvorwürfe gegen Ski-Legende Toni Sailer entzweien die Gesellschaft. Dabei geht es ausschließlich um die Schuldfrage und nicht darum, wie man sich künftig einer Kultur des Wegschauens entgegenstemmen kann.

Die prall gefüllten Internetforen spiegeln in der neuerdings aufflammenden Causa Toni Sailer ungeteilt Betroffenheit wider: Ein Teil der Poster begrüßt die öffentliche Demontage des Ski-Denkmals, das neun Jahre nach seinem Tod unsanft vom Sockel geholt wird. Auf Basis eines möglichen Fehltritts gehen die besonders Erzürnten zur Pauschalverurteilung des Skisports über, als stünde der stellvertretend für Übergriffe. Manche Lobbyisten von einst und auch jetzt würden über eine pervertierte Welt den Mantel des Vergessens legen wollen, der sich wie unschuldiger Neuschnee über eine karge Gletscherlandschaft legt.
Die debattierende Opposition indes bekrittelt den Umgang mit teils anonym geäußerten Vorwürfen, die nach 40 Jahren auftauchen und möglicherweise jeglicher Grundlage entbehren. Da ist von einer Störung der Totenruhe die Rede und davon, dass Medien unnötig Staub aufwirbeln würden. Sogar Sailers Status als Nationalheiligtum, als Jahrhundertsportler, als einer, der Österreich im Cortina der Nachkriegszeit mit Olympia-Gold aus der Depression holte, dient der Rechtfertigung dieses Anspruchs. Eines Anspruchs, der so nicht existiert. Was also veranlasst die Poster – obwohl viele in der Hochzeit des Ski-Helden vielleicht noch nicht einmal auf der Welt waren –, sich auf hasserfüllte Apologien oder Angriffe einzulassen? Toni Sailer ist mittlerweile nicht mehr nur sportlicher Mythos, ein Fleisch gewordener „Blitz aus Kitz“, sondern vor allem auch Synonym:
einerseits für die heile Wintersportwelt, die vom Tiroler Maler Alfons Walde in Farben getaucht wurde und die Österreich ein Stück weit Identität verleiht; andererseits auch für die Vorwürfe, die sich rund um dieses Idyll ranken.
Einen differenzierten und besonnenen Zugang vermisst man in öffentlichen Diskussionen ohnedies, im Umgang mit dem Thema #MeToo, mit Missbrauchsdebatten ganz besonders. Die Argumentation folgt zumeist dem Prinzip der Befindlichkeit bis hin zur politisch Prägung. Zuletzt war dieses Wechselspiel beim Rechtsstreit um Sigrid Maurer festzustellen, in dem die ehemalige Grüne-Politikerin auf Facebook-Untergriffe reagierte.
Eine Debatte scheint unumgänglich: über die Causa Toni Sailer an sich und das, was die Lehren daraus sein müssen. Dabei geht es nicht um den Niedergang eines Denkmals, sondern vielmehr darum, die Gesellschaft zu sensibilisieren und gegen die Kultur des Wegschauens anzukämpfen. Nur aufzuschreien heißt, nichts gelernt zu haben.

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