Tiroler Tageszeitung, Ausgabe vom 20. März 2018; Leitartikel von Mario Zenhäusern: „Verschnaufpause für den Brexit“
Innsbruck (OTS) – Die Europäische Union und Großbritannien haben nach dem EU-Austritt der Briten eine Übergangsphase vereinbart. Das verschafft der EU die Möglichkeit, den Einigungsprozess voranzutreiben, um die eigene Verhandlungsposition zu verbessern.
Die Europäische Union und Großbritannien haben sich im Zuge der Brexit-Verhandlungen auf eine Übergangsfrist nach dem britischen EU-Austritt im März 2019 verständigt. Erst Ende 2020 soll ein Schlussstrich gezogen werden. Wie EU-Chefverhandler Michel Barnier gestern erklärte, soll sich Großbritannien in den 21 Monaten bis zum Ende dieser Verschnaufpause weiter an alle EU-Regeln halten und auch wie bisher finanzielle Beiträge nach Brüssel überweisen. Außerdem behält das Land in dieser Zeit den Zugang zum EU-Binnenmarkt und bleibt Teil der Zollunion. Stimmrecht in der EU besitzen die Briten aber keines mehr.
Was sich auf den ersten Blick wie das bloße Hinauszögern der endgültigen Entscheidung liest, bietet indes beiden Seiten entscheidende Vorteile. Nicht nur die Verhandler, auch Firmen und Einzelpersonen erhalten auf diese Weise länger die Möglichkeit, sich auf die neue Situation einzustellen und zu erwartende wirtschaftliche Härten der Trennung, so sie denn tatsächlich umgesetzt wird, zu reduzieren. Derzeit halten die Hardliner in der Londoner Regierung zwar noch an ihren Plänen fest, aber der britische EU-Austritt ist nicht in Stein gemeißelt. Und je länger die Frist bis zur endgültigen Entscheidung hinausgezögert wird, desto höher sind die Chancen, dass sich die knappe Anti-EU-Mehrheit in eine Minderheit verwandelt und die Briten in Sachen EU eine Kehrtwende machen.
Darüber hinaus bietet die Übergangsfrist der Europäischen Union selbst die Möglichkeit, den zuletzt ins Stocken geratenen Einigungsprozess fortzuführen und endlich positiv abzuschließen. Finanz-, Wirtschafts- und Flüchtlingskrise haben die 27 verbliebenen Staaten in den vergangenen zehn Jahren auseinanderdividiert. Etliche Mitgliedsländer wollen zwar von den Vorzügen der Gemeinschaft profitieren, weigern sich aber, die damit verbundenen Pflichten zu übernehmen. Diese jedem Gleichheitsgrundsatz zuwiderlaufende Rosinenpickerei hat erst ein Ende, wenn sich die EU-Staaten über gewisse Grundregeln geeinigt haben, die nicht verhandelbar sind. Dazu zählt zum Beispiel die konsequente Umsetzung von Beschlüssen des EU-Rates, die zuletzt etliche Staaten sanktionslos verweigerten. Auch die Briten nahmen für sich immer eine ganze Reihe von Sonderregelungen in Anspruch. Damit muss es vorbei sein, unabhängig davon, ob sie der EU den Rücken kehren oder den Weg zurück in die Gemeinschaft suchen.
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